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KonflikteLibanon

Evakuierung im Libanon: "Sie haben 45 Minuten Zeit"

Cathrin Schaer
9. November 2024

Die Evakuierungswarnungen der Kriegsparteien im Libanon gegenüber der Zivilbevölkerung stehen in der Kritik. Teils erreichten sie nur einen Teil der Betroffenen, vielfach seien sie zu kurzfristig, sagen Beobachter.

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Soldaten der libanesischen Armee auf den Trümmern eines durch israelische Luftschläge zerstörten Gebäudes in Beirut
Soldaten der libanesischen Armee auf den Trümmern eines durch israelische Luftschläge zerstörten Gebäudes in BeirutBild: Ibrahim Amro/AFP/Getty Images

Mitten in der Nacht, um zwei Uhr, wird eine Familie durch einen Anruf geweckt. Am Telefon ist ein Fremder: Die Familie solle sich sofort woandershin begeben, denn das Gebiet, in dem sie lebt, würde bald bombardiert.

Vergleichbaren Situationen sähen sich im Rahmen des Krieges zwischen Israel und der Hisbollah derzeit viele Menschen im Libanon gegenüber, sagt Aya Majzoub, stellvertretende Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte zufolge sind Menschen in rund einem Viertel des libanesischen Territoriums von der Anweisung der Israelis betroffen, ihr Wohngebiet zu verlassen. Für die Dauer des jeweiligen Kampfes gegen die Hisbollah sollen die Einheimischen sich an einen anderen Ort begeben, ansonsten gerieten sie in Gefahr.

"Die meisten Menschen bekommen nicht einmal Anrufe", sagt Majzoub im Gespräch mit der DW. "Oftmals gibt der arabischsprachige Sprecher der israelischen Armee Warnungen einfach in den sozialen Medien bekannt."

Vor einigen Tagen geschah das mitten in der Nacht. "Zwischen ein und vier Uhr morgens wurden auf dem Kurznachrichtendienst X Evakuierungswarnungen gepostet", berichtet Majzoub. Diese bezogen sich auf Teile des Beiruter Stadtteils Dahieh. "Wären nicht junge Männer aus dem Viertel auf die Straße gerannt und hätten in die Luft geschossen, um die Menschen aufzuwecken, hätten die meisten die Warnung wohl gar nicht mitbekommen."

Eine leere Straße im Kibbutz Dafna im Norden Israels
Zehntausende Menschen wurden im nördlichen Israel wegen der Hisbollah-Angriffe in Sicherheit gebrachtBild: Alberto Pizzoli/AFP/Getty Images

Kritik an Evakuierungsanordnungen

Inzwischen haben Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch Kritik an den israelischen Evakuierungswarnungen geäußert. Sie beanstanden etwa ungenaue oder irreführende Karten, auf denen die zu evakuierenden Gebiete eingezeichnet sind, dazu auch zu kurzfristige oder zu unspezifische Warnungen.

Am 30. Oktober gab Israel seine erste stadtweite Warnung im Libanon heraus. An jenem Tag teilte ein israelischer Militärsprecher der Bevölkerung der im östlichen Libanon gelegenen Stadt Baalbek über den Kurznachrichtendienst X mit, Israel beabsichtige, "in Ihren Städten und Dörfern mit Gewalt gegen die Interessen der Hisbollah vorzugehen". Die Einheimischen flüchteten. Nur vier Stunden später begannen die israelischen Luftangriffe. 

Menschenrechtsorganisationen kritisierten die Maßnahme: Vier Stunden reichten nicht aus, um eine ganze Stadt zu evakuieren. Diese Woche zeigte die Washington Post in einem Bericht zudem, dass die meisten Angriffe an jenem Tag zudem außerhalb der kartierten Evakuierungszone stattfanden.

Einige Tage zuvor hatte die Hisbollah ebenfalls eine Reihe von Evakuierungswarnungen veröffentlicht. In ihnen forderte sie die Bewohner von mehr als 20 Städten im Norden Israels auf, sich in Sicherheit zu bringen, da sie aufgrund der Anwesenheit israelischer Truppen potenzielle Ziele seien. 

Zwar verfügt die Hisbollah über Raketen. Im Unterschied zu Israel hat sie aber keine Luftwaffe. Darum werten viele Beobachter die Warnung vor allem als Element der psychologischen Kriegsführung.

Dennoch hat Amnesty International auch hinsichtlich der Evakuierungswarnungen der Hisbollah Bedenken. "Wenn diese Warnungen ganze Städte und Dörfer betreffen und zudem keine konkreten militärischen Ziele nennen, sind sie zu allgemein gehalten", sagt Majzoub.

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"Warnungen sind rechtlich sinnvoll"

Die Verpflichtung, Zivilisten vor einem Angriff zu warnen, geht auf das Jahr 1863 und den amerikanischen Bürgerkrieg zurück. Damals wurde der so genannte "Lieber-Code" verfasst. Dieser gilt als der erste Versuch, Regeln für das Verhalten auf dem Schlachtfeld festzulegen. Viele der darin enthaltenen Prinzipien bilden die Grundlage des heutigen humanitären Völkerrechts.

"Für einen Angreifer sind Warnungen aus rechtlicher Sicht sinnvoll", schrieb Michael Schmitt, Professor für Völkerrecht an der britischen Universität Reading, im vergangenen Oktober in einem Text für die US-Militärakademie West Point. "Je weniger Zivilisten sich im Zielgebiet befinden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen Angriff verbietet."

Der Jurist Francis Lieber, auf den der sogenannte Lieber-Code zurückgeht
Der Jurist Francis Lieber, auf den der sogenannte Lieber-Code zurückgehtBild: Heritage Art/IMAGO

Warnungen, keine Befehle

"Mit Blick auf den Libanon sprechen wir nicht von Evakuierungsbefehlen, sondern von Warnungen", sagt Emanuela-Chiara Gillard vom Oxford Institute for Ethics, Law and Armed Conflict im DW-Gespräch. Es sei wichtig, zwischen beiden zu unterscheiden. "Denn im Libanon befinden wir uns nicht in einer Besatzungssituation und die Kriegsparteien sind nicht in der Lage, Befehle zu erteilen. Die Frage ist also: Sind die Warnungen unter den gegebenen Umständen wirksam? Ermöglichen sie es den Zivilisten, sich aus der Gefahrenzone zu begeben?"

Was aber eine "wirksame" Warnung ist, hängt von vielerlei Faktoren ab. Für das US-Militär etwa müssen Warnungen nicht präzise sein, wenn sie einer militärischen Aktion schaden würden.

"Natürlich ist es subjektiv", räumt Majzoub von Amnesty International ein. "Aber es ist nicht effektiv, die Leute mitten in der Nacht in den sozialen Medien zu warnen", sagt sie mit Blick auf die jüngsten Vorfälle in Beirut.

Eine geflüchtete Libanesin reinigt eine Schule im Norden des Libanon, die in eine Flüchtlingsunterkunft umgewandelt wurde
Eine geflüchtete Libanesin reinigt eine Schule im Norden des Libanon, die in eine Flüchtlingsunterkunft umgewandelt wurdeBild: Ibrahim Chalhoub/AFP/Getty Images

Immer umfassendere Evakuierungslisten 

Auch für die Zeit nach einer Evakuierungswarnung gebe es Regeln, sagte Gillard. Blieben Zivilisten beispielsweise in dem Gebiet, für das die Warnung ausgesprochen wurde, gälten sie nicht automatisch als bewaffnete Kämpfer. Zudem muss das Militär immer die Maßgabe der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen.

Sie halte es für problematisch, Warnungen mit Zwangsvertreibungen gleichzusetzen, sagt Gillard. "Denn eine Warnung ist eine Schutzmaßnahme."

Allerdings könnten Evakuierungswarnungen womöglich dann zu Zwangsvertreibungen werden, wenn sie mit der Absicht ausgesprochen werden, die Menschen nicht zurückkehren zu lassen, sagt Majzoub. Mit Blick auf den Libanon sei es jedoch noch zu früh, dies zu beurteilen.

"Aber wir sehen, dass alle paar Tage mehr und mehr Städte und Dörfer zur Liste der Evakuierungswarnungen hinzugefügt werden", sagt sie. "Das wirft die Frage auf: Gibt die israelische Armee diese Warnungen heraus, um die Menschen zu schützen, oder um Massenvertreibungen und -umsiedlungen auszulösen?"

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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