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Lesen macht taub

Brigitte Osterath9. Dezember 2015

Er liest ein Buch, sie fragt ihn etwas, er hört sie nicht. Das menschliche Gehirn ist schuld, zeigen jetzt britische Forscher: Multitasking liegt uns einfach nicht. Auf Frauen trifft das übrigens genauso zu.

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Frau liest ein Buch Foto: Peter Endig/dpa
Bild: picture-alliance/dpa/P. Endig

"Taubheit durch Unaufmerksamkeit" heißt das Phänomen unter Psychologen und Neuroforschern. Wer sich auf ein Buch, eine Webseite oder eine andere Aufgabe konzentriert, hört weniger von dem, was um ihn herum passiert. Das haben wir alle schon mal erlebt.

Forscher vom University College London haben jetzt die Ursache dafür gefunden. Sie haben die Aktivität im Gehirn von Probanden untersucht, während diese ein schwieriges Buchstabenrätsel am Computer lösten. Gleichzeitig spielten sie den Probanden Töne verschiedener Frequenzen vor. "Sie haben diese Töne nicht gehört, obwohl sie für sie durchaus hörbar waren", erzählt Co-Autorin Maria Chait. "Unser Hirnscan zeigt, dass die Menschen die Geräusche aber nicht etwa ignorierten oder herausfilterten. Sie haben sie tatsächlich von Anfang an nicht gehört."

Beim Sehen und Hören werden vermutlich dieselben neuronalen Ressourcen genutzt, schreiben die Forscher im Fachmagazin "Journal of Neuroscience". Neurowissenschaftlerin und Mitautorin Nilli Lavie erklärt der DW: "Die Gehirnteile, die normalerweise auf Geräusche reagieren, waren weniger aktiv, wenn die Probanden in eine anspruchsvolle Aufgabe vertieft waren."

Mit anderen Worten: Das Gehirn hat nur eingeschränkte Kapazitäten für Sehen und Hören zur Verfügung. Ist der eine Vorgang in vollem Gange, schraubt das Gehirn seine Fähigkeiten beim Hören hinunter. "Fürs Multitasking dieser Art sind wir einfach nicht gemacht", sagt Lavie.

Gehirn Foto: James Steidl - Fotolia.com
Das menschliche Gehirn: beschränkter als man oft glaubtBild: Fotolia/James Steidl

Männer wie Frauen

Frauen behaupten von sich ja oft, multitaskingfähiger zu sein als Männer. Sprich: Wenn sie ein Buch liest, hört sie natürlich sofort, wenn er sie anspricht. Nur umgekehrt ist das ein Problem. So lautet zumindest die weitverbreitete Hypothese. Die Ergebnisse der Forscher zeigen etwas anderes.

Vierzehn Freiwillige nahmen an der Studie teil, darunter acht Frauen. Einen Unterschied zwischen den Geschlechtern konnten die Neurowissenschaftler nicht entdecken. "Das Gefundene trifft für Männer und Frauen gleichermaßen zu", erklärt Lavie. Sie betont allerdings, dass die Studie nicht dazu ausgelegt war, Geschlechtsunterschiede zu untersuchen. Trotzdem: Wenn andersweitig beschäftigte Frauen so viel besser hören könnten als Männer, wäre das in der Studie aufgefallen.

Frauen sind demnach genauso anfällig für "Taubheit durch Unaufmerksamkeit" wie Männer, sagt Lavin. Das hätten auch viele ihre Studien zuvor gezeigt.

Blind und taub

Wenn das Gehirn überlastet ist, verarbeitet es Sinnesreize weniger gut. Das haben schon im Jahr 1999 Forscher von der Harvard-Universität mit ihrer "Gorilla-in-unserer-Mitte"-Studie sehr eindrücklich demonstriert. Wir können einen Menschen im Gorilla-Kostüm komplett übersehen, wenn wir uns gerade auf andere Dinge konzentrieren. "Blindheit durch Unaufmerksamkeit" heißt das dann.

Eine solches Prioritätensetzen kann durchaus Vorteile haben. Menschen können sich dann sehr viel besser auf ihre Aufgabe konzentrieren. Vieles bekämen wir sonst nie erledigt. Auch Großraumbüros wären gar nicht möglich. "Unsere Forschung erklärt, wie Menschen sich in solchen offenen Büros überhaupt konzentrieren können", sagt Lavie. "Sie blenden die anderen Geräusche aus."

Nervenzellen Synapsen Foto: Sagittaria - Fotolia.com
Kommen zu viele Informationen gleichzeitig an, werden einige gar nicht mehr aufgenommenBild: Sagittaria - Fotolia.com

Tipps für den Alltag

Aus ihren Untersuchungsergebnissen zu Hören und Lesen zieht Nilli Lavie Schlüsse für das tägliche Leben. Zum Beispiel: "Lesen und gleichzeitig Radiohören ist keine gute Idee, wenn man auf den Inhalt der Radiosendung achten will", sagt sie. Auch wer sich mit einer Zeitschrift nur die Zeit vertreiben will, bis der Teil der Radiosendung beginnt, der einen wirklich interessiert, sollte gewarnt sein: "Unsere Forschung zeigt, dass Sie den Teil, auf den Sie warten, vermutlich verpassen werden, wenn Sie mit Lesen beschäftigt sind."

Auch Fußgänger, die mit ihrem Smartphone herumspielen, SMS schreiben oder im Internet lesen, während sie durch die Straßen laufen, sollten vorsichtig sein: "Eine Sirene oder eine Hupe sind laut genug, die dringen noch durch", sagt Lavie, "aber eine Fahrradklingel oder einen Automotor werden sie wahrscheinlich nicht hören."

Lavie hat noch einen ganz anderen Tipp. Der könnte uns allen ein friedlicheres Familienleben bescheren. Wenn Sie mit jemandem reden, der gerade liest, fernsieht oder Computer spielt, und Sie bekommen keine Antwort - werden Sie nicht sauer! "Das bedeutet nicht, dass der andere Sie ignoriert - vermutlich hört er Sie einfach nicht."