Lehrstunde der Altmeister
10. August 2016Vorsichtig, geradezu zögerlich tastet sich Lisa Brennauer die Startrampe herunter. Bloß nicht schon hier die Balance verlieren, erst einmal sicher ins Rennen starten. Erst als ihre Räder den Asphalt berühren, beschleunigt Brennauer langsam. Fast scheint es, als wolle sie gar nicht richtig aus dem Sattel gehen. Im Wiegetritt wird so eine auf schnelles Geradeausfahren optimierte Zeitfahrmaschine etwas instabil - und das ist auf regennasser Fahrbahn gefährlich.
Die stellenweise neuverlegte Fahrbahn auf dem 29,7 Kilometer langen Rundkurs von Grumari westlich von Rio erwies sich als tückisch, weil rutschig. Die Belgierin Lotte Kopecky musste auf der technischen Abfahrt in einer Kurve sogar einen Fuß ausklicken und ihr Rad ausbalancieren, damit sie nicht stürzt. Und die Niederländerin Ellen van Dijk rutschte vom Fahrbahnrand ab und stand plötzlich in der Böschung. Dazu kam ein kräftiger Wind, der von der Küste auf die Strecke wehte. Viel fahrerisches Können war gefordert. Und Risiko. Eine die das nicht scheute, war die Italienerin Elisa Longo Borghini. Die Bronzemedaillengewinnerin des Straßenrennens fuhr die Abfahrten auf Zug, nahm so Tempo mit auf die Flachstücke und setzte eine Bestzeit an der ersten Zwischenmarke. Als Lisa Brennauer dort vorbeikam, hatte sie bereits 48 Sekunden Rückstand - die Medaillenchancen tendierten damit schon gegen null.
"Eigentlich dachte ich, dass ich ein schnelles Rennen fahre"
Die Erfahrenste im Starterfeld aber zeigte allen erneut ihre Klasse im Kampf gegen die Uhr: Kristin Armstrong. Die 42-Jährige Grand Dame des Zeitfahrens unterbot die Bestzeit von Longo Borghini und zeigte, dass sie wieder zum Saisonhöhepunkt topfit ist. Sie fuhr ein furioses Rennen, holte alles aus ihrem Körper heraus und ignoriert selbst, dass im ersten Anstieg ihre Nase anfing zu bluten. "Ich wusste gar nicht, was los ist. Erst dachte ich, meine Nase läuft einfach nur. Dann habe ich mir die Nase geputzt und gesehen, dass ich blute. 'Oh mein Gott', war mein erster Gedanke. Dann bin ich einfach weiter gefahren." Und zwar ziemlich schnell. Armstrong liefert sich ein packendes Duell mit der Russin Olga Zabelinskaya, die gerade erst aus einer Dopingsperre zurück ist. Die Amerikanerin entscheidet den Zweikampf am Ende um 5,5 Sekunden für sich und gewinnt tatsächlich ihr drittes Zeitfahr-Olympiagold in Folge. Eine unerreichte Leistung in der Olympiageschichte. Und der grandiose Schlusspunkt ihrer langen Karriere: "Ich werde morgen 43 Jahre alt. Ich habe es bis ans Limit getrieben", sagte Armstrong, die sich nun mehr Zeit für ihren Sohn nehmen will.
Lisa Brennauer sitzt derweil erst mal ausgepumpt am Streckenrand. Sie braucht eine ganze Weile, bis sie wieder genügen Luft bekommt zum sprechen. "Von meinen Wattzahlen her, die mein Tacho zeigte, dachte ich eigentlich, dass ich ein schnelles Rennen fahre. Aber als ich die Zeitabstände gehört habe, wusste ich, dass es nicht so gut läuft. Natürlich bin ich jetzt enttäuscht", sagt Brennauer, die nur Achte wird. Die Zeitfahr-Weltmeisterin von 2014 hatte hier auf eine Medaille gehofft. "Ich muss das jetzt in Ruhe analysieren."
Tony Martin kraft- und ratlos
Das gilt auch für Tony Martin. Der dreifache Zeitfahrweltmeister enttäuschte ebenfalls in seiner Paradedisziplin. Von Beginn an lief es nicht wirklich rund. Früh lag der 31-Jährige zurück und schien auch zum Saisonhöhepunkt die über die gesamt Saison hinweg betrachtet eher suboptimale Form nicht verbessern zu können. Martin, dessen letzter WM-Titel in dieser Disziplin schon knapp drei Jahre zurückliegt, scheint momentan im Kampf gegen die Uhr limitiert. Zu Beginn der Saison hatte er seine Position auf dem Zeitfahrrad nach intensiven Tests verändert, aber dies scheint im Ergebnis eher ein Rückschritt zu sein. Nach dem Rennen, das er als Zwölfter einen Platz vor Teamkollege Simon Geschke beendet, zeigte sich Martin ratlos und sprachlos: Er habe vom Start weg nicht seinen Rhythmus gefunden. "Ich bin wahnsinnig enttäuscht, aber das war es noch nicht", so ein gezeichneter Martin, der dann ziemlich schnell verschwand.
Ein anderer großer Name dieser Disziplin zeigte auf dem 54,6 Kilometer langen Kurs der Herren dagegen einen furiosen Start und Rennens alle: Fabian Cancellara. In seiner Abschiedssaison schien der Schweizer eigentlich schon weit über seinen Zenit hinaus. Im Zeitfahren, jener Disziplin, die er über viele Jahre hinweg dominierte, waren inzwischen andere oft schneller als der 35-Jährige, der bereits in Peking 2008 Gold holte. An der ersten Zwischenzeit lag der von den Fans wegen seiner muskulösen Statur liebevoll "Spartacus" genannte Cancellara überraschend vorne. Lange bot ihm der Australier Rohan Dennis Paroli, doch dann zwang ihn ein Defekt zum Radwechsel. Die Sekunden verrannen, ehe Dennis wieder auf dem Rad saß und Fahrt aufnehmen konnte. Damit war aus dem Rennen um Gold.
Cancellara locker wie lange nicht
Und Chris Froome? Der Toursieger fuhr verhalten los. Wer dachte, dass er sich auf dem anspruchsvollen Rundkurs mit insgesamt vier Steigungen nur taktiert, sah sich getäuscht. Froome konnte - wie im Finale des Straßenrennens - nicht schneller. Zwar machte der Brite gegen Ende noch ein paar Plätze gut, aber es reicht nur noch für Bronze. Der stärkste Verfolger von Fabian Cancellara war Tom Dumoulin, der sich sein Rennen gut einteilte, am Zielstrich dann aber mit 47 Sekunden Rückstand klar hinter Cancellara blieb. "Ich bin gerade ziemlich enttäuscht. Mein Ziel war Gold und das habe ich verfehlt", sagte ein genickter Silbermedaillengewinner nach dem Rennen. "Fabian war heute viel besser als Chris und ich." Letzterer sprang mit einem großen Satz auf das Siegertreppchen und strahlte. Wie befreit und entfesselt war er gefahren, vielleicht auch, weil die Favoritenrolle andere inne hatten. "Ich habe nichts zu verlieren", sagte er vor dem Rennen und gewann alles. Olympiagold im letzten großen Wettkampf - "Was kann ich mehr wollen als das?", fragte Cancellara und beendete damit seine 16-jährige Radkarriere.