1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Leben im Schatten des Krieges

Roman Goncharenko5. September 2016

Vor zwei Jahren entstand die Trennlinie zu den Separatistengebieten in der Ostukraine. In der Region leben viele ethnische Russen. Wie geht es denjenigen, die auf Kiewer Seite leben? Eine Reportage aus Sewerodonezk.

https://p.dw.com/p/1Jw4K
Gesprengte Brücke in Slowjansk (Foto: DW/R. Goncharenko)
Gesprengte Brücke in SlowjanskBild: DW/R. Goncharenko

Das Kriegsgebiet ist mehr als 200 Kilometer weit entfernt. Doch den Krieg spürt man, sobald man die Stadt Charkiw in der Ostukraine verlässt. Die löchrige M-03-Fernstraße hat sich in eine Militärtrasse verwandelt.

Man trifft auf Trucks mit Kanonen oder Konvois von Tankfahrzeugen, die nach Osten rollen. Plakate am Straßenrand machen Werbung - mal für die ukrainische Armee, mal für Busreisen nach Moskau. Spätestens bei der Stadt Slowjansk werden auch die Kriegsfolgen sichtbar: eine gesprengte Brücke erinnert wie ein Mahnmal an die Kämpfe, die hier tobten.

Vor genau zwei Jahren, am 5. September 2014, unterzeichnete die Ukraine die erste Waffenstillstandsvereinbarung mit den prorussischen Separatisten aus Donezk und Luhansk (Minks-I). Sie hielt nur wenige Wochen, doch die damals entstandene Trennlinie gilt größtenteils bis heute.

Misstrauen gegenüber Kiew

Diese Linie verläuft durch Gebiete, in denen besonders viele ethnische Russen leben – mehr als ein Drittel. Wie geht es heute denjenigen von ihnen, die auf Kiews Seite der Trennlinie sind? Die Suche nach Antworten führt nach Sewerodonezk.

Die Industriestadt mit rund 130.000 Bewohnern wurde im September 2014 zur provisorischen Hauptstadt des von Kiew kontrollierten Gebietes Luhansk. Sie entstand in den 1950er Jahren, als die Sowjetunion dort eine Hochburg der chemischen Industrie bauen ließ.

Chemiewerk AZOT in Sewerodonezk (Ukraine) Copyright: DW/R. Goncharenko
Sewerodonezk mit dem Chemiewerk "AZOT" gehört zu den größten Zentren der Chemieindustrie in der UkraineBild: DW/R. Goncharenko

Das Stadtbild wird von den Schloten des Chemiewerks "AZOT" (Stickstoff) geprägt. Es ist das größte Unternehmen in Sewerodonezk, das vor dem Krieg vor allem Dünger für die Landwirtschaft herstellte. Nun steht es still.

Sewerodonezk hat sich in der jüngsten ukrainischen Geschichte einen Namen als Separatistenhochburg gemacht. Während der prowestlichen "Revolution in Orange" Ende 2004 versammelten sich hier prorussische Politiker aus dem Osten und Süden des Landes bei einem Kongress. Sie drohten Kiew mit Abspaltung.

Zehn Jahre später zählte die Stadt zu der sogenannten "Luhansker Volksrepublik", doch die Separatisten flüchteten vor der ukrainischen Armee. Große Kämpfe gab es nicht.

Moskau steht nicht am Pranger

Seitdem wehen in der Stadt blau-gelbe ukrainische Fahnen, doch die Stimmung bei den Menschen ist nicht so eindeutig. Viele scheinen der neuen Regierung zu misstrauen oder fühlen sich von Kiew ignoriert. Das wird in privaten Gesprächen klar, die auf Wunsch ohne Mikro geführt werden.

Eine ältere Frau, die zu Sowjetzeiten aus Sibirien nach Sewerodonezk kam, erzählt mit Zorn in der Stimme, wie 2014 ukrainische Soldaten Waffen auf sie gerichtet hatten. Für sie sei Kiew und nicht Moskau schuld am Konflikt.

So denken viele hier, schätzt ein Lokalpolitiker. Mehr als die Hälfte der Bewohner seien prorussisch. Bei diversen Wahlen bekam der "Oppositionelle Block" die meisten Stimmen, eine politische Kraft, die nach dem Zerfall der prorussischen Partei der Regionen entstanden ist.

Ukraine Ukrainische Fahne in Sewerodonezk
Die Stadt Sewerodonezk wurde 2014 zur provisorischen Hauptstadt des von der Ukraine kontrollierten Gebiets LuhanskBild: DW/R. Goncharenko

Russische Sprache dominiert

Werden Russen in der Ostukraine bedroht, wie aus Moskau zu hören ist? Werden sie zwangsukrainisiert? Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Es scheint eher die ukrainische Sprache zu sein, die Schutz braucht. Auf den Straßen in Sewerodonezk hört man fast ausschließlich Russisch. Von den 21 Schulen wird in acht komplett auf Russisch unterrichtet. Eine von ihnen ist die Schule Nummer 18.

"Es gab schon Vorschläge, ukrainische Klassen in unserer Schule zu gründen", sagt die Direktorin Natalia Fomenko. Doch die Initiative scheiterte am geringen Interesse der Eltern. "Mehr als 3-5 Anträge haben wir nicht bekommen." Im Gespräch wechselt sie immer wieder ins Ukrainische und scheint sich dabei wohl zu fühlen. "Ich hatte nie Probleme damit, niemand hat mich verfolgt", sagt Fomenko, selbst eine Russischlehrerin.

Dann berichtet die Schuldirektorin über einen Vorfall, der typisch für die heutige Ukraine scheint. Eine proukrainische Nichtregierungsorganisation habe ihre Schule informell überprüfen wollen, sagt Fomenko: "Jemand hat ihnen gesagt, dass ich eine Separatistin bin."

Zwei Frauen seien gekommen, um mit Schülern aus der 11. Klasse zu sprechen. "Es war mir schon Bange, denn es waren auch geflüchtete Jugendliche aus Donezk und Luhansk dabei, und ich kannte deren Stimmung", sagt die Schuldirektorin. Die Sorge sei umsonst gewesen. Die Frauen hätten sich bei ihr für "tolle Erziehungsarbeit" bedankt.

Musik als kulturelle Brücke

An der renommierten Sewerodonezker Berufsfachschule für Musik, die den Namen des berühmten sowjetischen Komponisten Sergej Prokofjew trägt, kann man russische Kultur besonders intensiv erleben. An den Wänden hängen Portraits russischer und sowjetischer Musikgrößen. Doch auch ukrainische Namen sind präsent. Man pflege hier beide Sprachen und Kulturen, versichert die stellvertretende Direktorin Natalia Jurtschenko.

Berufsfachschule für Musik in Sewerodonezk (Ukraine) Copyright: DW/R. Goncharenko
Lehrerinnen Olha Bulekowa (links) und Natalia Jurtschenko sehen ihre Berufsfachschule für Musik als "eine apolitische Insel"Bild: DW/R. Goncharenko

Die meisten Lehrer arbeiten auf Russisch, vor allem in Musikfächern. "Als Einziges wird das Fach Bandura (ukrainisches Saiteninstrument) auf Ukrainisch unterrichtet", sagt Jurtschenko. Von den rund 160 Studentinnen und Studenten gebe es nur ein Mädchen, das auch im Alltag Ukrainisch spricht. "Es ist schwierig zu sagen, welche Kultur uns näher ist", sagt Olha Bulekowa, die in der Berufsfachschule Geschichte und Philosophie unterrichtet – auf Ukrainisch.

Wenn es um Russland und den Krieg im Osten der Ukraine geht, werden die beiden Lehrerinnen nachdenklich. Ist Russland ein Aggressor? "Es ist schwierig, das zu begreifen", sagt Jurtschenko. Die Berufsfachschule für Musik sei "eine apolitische Insel", die dem Krieg getrotzt habe, fügt Bulekowa hinzu.

"Man kann hierher kommen, tief durchatmen und abschalten", sagt sie. "Draußen war Kanonendonner zu hören und wir haben Staatsprüfungen abgenommen", erinnert sich die Lehrerin. Auch die Stadt, die im Schatten des Krieges lebt, profitiere davon. Noch nie habe die Sewerodonezker Berufsfachschule für Musik so viele Konzerte für Bürger gegeben, wie in den vergangenen zwei Jahren, sagt Bulekowa. Tickets seien immer ausverkauft.