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PolitikNahost

Lazzarini: "Gaza droht ein Cholera-Ausbruch"

7. Juni 2024

Philippe Lazzarini ist Leiter des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge. In Berlin berichtet er von der nahezu ausweglosen Lage der Menschen im Gazastreifen.

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Philippe Lazzarini, Chef des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge, betritt ein Gebäude
Philippe Lazzarini ist seit März 2020 Chef des UN-Hilfswerks für Palästina-FlüchtlingeBild: Johanna Geron/REUTERS

Er hat schon in vielen Ländern für die Vereinten Nationen gearbeitet. Philippe Lazzarini kümmerte sich um humanitäre Maßnahmen im Irak, in Somalia und Angola. Aber so hoffnungslos wie jetzt, sagt der 1964 geborene schweizerisch-italienische Diplomat, hat er sich bislang noch nicht gefühlt. Seit 2020 ist er Leiter des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Und sagt jetzt bei einem Besuch in Berlin: "Wir haben einen neuen Tiefstand erreicht, was die ständige Missachtung der Vereinten Nationen angeht. Wenn wir nicht dagegenhalten und die Vereinten Nationen schützen, weiß ich nicht, wie wir in Zukunft bei irgendeinem Konflikt Einfluss nehmen können."

Lazzarini, der zur Zeit von der jordanischen Hauptstadt Amman aus arbeitet, ist für ein paar Tage in die deutsche Hauptstadt gekommen, um für weitere Unterstützung für seine Organisation zu werben. Vielleicht kein ganz so günstiger Zeitpunkt; das politische Berlin steckt mitten im Wahlkampf für die am Sonntag anstehende Europawahl. Dabei hat die "United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East", kurz UNRWA, Unterstützung bitter nötig. Israel wirft dem UN-Hilfswerk vor, von der islamistischen Terrorgruppe Hamas unterwandert zu sein. Tatsächlich wurde zehn Mitarbeitern unter dem Vorwurf gekündigt, direkt am Massaker gegen Israelis am 7. Oktober vergangenen Jahres beteiligt gewesen zu sein. Aber dafür, dass es eine systematische Zusammenarbeit mit der Hamas gibt, fand eine unabhängige Kommission keine Belege. Die Kommission wurde von Catherine Colonna geleitet, bis zum Januar diesen Jahres französische Außenministerin. Im April legte sie ihren Abschlussbericht vor. 

Vier Kinder gehen mit leeren Wasserkanistern durch zerstörte Straßen in der Stadt Rafah
Vor allem Kinder sind von der Situation schwer betroffen Bild: Abed Rahim Khatib/dpa/picture alliance

US-Unterstützung bleibt weiter eingefroren


Dennoch stellten zahlreiche Länder wie die USA, Großbritannien, Japan, die Schweiz und Österreich die Zahlungen an die UNRWA zunächst ein. Deutschland, im Jahr 2022 mit rund 200 Millionen Euro nach den USA der zweitgrößte Geldgeber, hatte seinen Anteil schon vor dem Bekanntwerden der Anschuldigungen überwiesen. Und hat mittlerweile erklärt, die UNRWA weiter unterstützen zu wollen. Die USA haben ihre Zahlungen noch bis 2025 eingefroren. 

Ausbruch von Krankheiten befürchtet

Lazzarini beteuert nun in Berlin, er werde die Vorwürfe weiterhin sehr ernst nehmen, gegen 14 Beschuldigten werde weiter ermittelt. Aber er verwahrt sich gegen pauschale Urteile gegen seine insgesamt 32 000 Mitarbeiter, die nicht nur im Gaza-Streifen, sondern auch im Westjordanland und in Jordanien aktiv sind. In Gaza selbst gibt es rund 13000 UNRWA-Hilfskräfte. Und Lazzarini erzählt vom unfassbaren Elend im Gazastreifen: "Im Moment fürchten wir vor allem den Ausbruch von Krankheiten wie Cholera. Wir müssen außerdem einen Weg finden, den Hunger zu bekämpfen. Und im Süden, wo sich im Moment die meisten Menschen aufhalten, hat sich die Lage seit der israelischen Offensive im Mai dramatisch verschlechtert." 

Sorgen vor allem um die Kinder

Sorgen machen dem UN-Diplomaten vor allem die Kinder: "Wir haben in Gaza rund 600.000 Kinder im Grundschulalter und es hat absoluten Vorrang, sie wieder in ein Bildungsumfeld zu bringen. Und es gibt keine funktionierende palästinensische Behörde, die das leisten könnte." Für einen Moment schweigt auch Lazzarini, um eine Formulierung ringend: "Wir waren noch nie in einer solchen Situation, haben noch nie so viele Menschen verloren."

Treffen mit dem Chef des Auswärtigen Ausschusses

In Berlin trifft Lazzarini Jens Plötner, den außenpolitischen Berater von Bundeskanzler Olaf Scholz, er spricht mit Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) und Vertretern der Fraktionen im Bundestag. Darunter auch mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth von den Sozialdemokraten. Der sagt: "Wir brauchen eine Hilfsorganisation, die auf palästinensischer wie auf israelischer Seite Vertrauen genießt." Das gibt es zur Zeit offenbar wirklich nicht, obwohl Lazzarini berichtet, er stehe auch mit den Israelis in Kontakt. Er habe die israelische Regierung  gebeten, ihm weitere Namen von UNRWA-Mitarbeitern zu nennen, die im Verdacht stehen, mit der Hamas zu kooperieren. Aber er habe bislang keine Informationen erhalten.

Diese UN-Schule in Nuseirat im Gazastreifen wurde bei einem Bombenangriff schwer beschädigt
Diese UN-Schule in Nuseirat im Gazastreifen wurde bei einem Bombenangriff schwer beschädigtBild: Bashar Taleb/AFP/Getty Images

"Ein Schock wie der 11. September"

Dann erzählt Lazzarini davon, dass seine Mitarbeiter im Gazastreifen immer noch aktiv sind, etwa in Krankenhäusern und Schulen. Und teilt seine Einschätzung mit über das, was im Nahen Osten geschehen ist seit dem Hamas-Terrorangriff auf Israel: "Der 7.Oktober hatte für die Region eine ähnliche Bedeutung, war ein ähnlicher Schock wie der 11.September 2001 für die ganze Welt."

 Mangel an Interesse auf allen Seiten

Er plädiert für eine Zwei-Staaten-Lösung, aber erst einmal müsse die gegenwärtige Situation überwunden werden. "Es gibt überall einen Mangel an Interesse, diesen schon so lange anhaltenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wirklich einzudämmen." Hoffnungsfroh klingt anders.

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