"Die EU verspielt ihre Glaubwürdigkeit"
1. August 2017Deutsche Welle: Seit Jahresbeginn sind über 94.000 Flüchtlinge über die Mittelmeerroute nach Italien gekommen. Europa schließt seine Grenzen und italienische Behörden zeigen sich ungeduldig. Wieso musste es dazukommen?
Laura Boldrini: Wir haben zu lange weggeschaut - aus verschiedenen Gründen. In Afrika gibt es so viele ungelöste Konflikte und eine Konzentration von Wohlstand in den Händen weniger Eliten. Das sorgt dafür, dass viele nach besseren Lebensbedingungen andernorts suchen. Hinzu kommt der Egoismus und die Kurzsichtigkeit vieler europäischer Staaten - nicht in ganz Europa, sondern bei einigen Mitgliedern. Ich möchte das differenzieren, denn die EU-Kommission hat in den vergangenen zwei Jahren bereits darauf hingewiesen, dass eine Umverteilung der Flüchtlinge es einfacher machen würde, das Problem zu handhaben.
Ist dieses Problem unterschätzt worden?
Mir scheint es so zu sein. Wir Europäer haben die Vorstellung, dass sich Kriege, Diktaturen und Hungersnöte in unserer direkten Nachbarschaft abspielen können, ohne dafür bezahlen zu müssen. Insbesondere wir Italiener haben diese Probleme als "Notfall" - als ein außerordentliches und unvorhersehbares Phänomen - angesehen, obwohl mittlerweile klar ist, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, das nicht improvisierte, sondern langfristige Lösungen braucht.
Die neuesten Äußerungen einiger osteuropäischer Staaten zeigen mangelnde Solidarität für Europa. Glauben Sie, dass eine Umverteilung realistisch ist, falls der Europäische Gerichtshof in seiner bevorstehenden Entscheidung, ob EU-Mitglieder zur Aufnahme von Flüchtlingen gezwungen werden können, positiv urteilen sollte?
Ich hoffe das sehr, denn die EU verspielt beim Thema Umverteilung derzeit viel ihrer Glaubwürdigkeit. Eine Gemeinschaft, in der jemand nur mitmacht, wenn es einen klaren ökonomischen Vorteil für ihn gibt, kann nicht überleben. Deshalb ist es gut, dass die Kommission - wie ich schon oft vorgeschlagen habe - Verfahren eingeleitet hat gegen jene, die gemeinschaftliche Entscheidungen nicht umsetzen wollen. Es geht [in der EU] nicht nur um die Wahrung finanzieller Stabilität.
In der Zwischenzeit hat die italienische Regierung das jus soli ausgesetzt. Es gewährt den Kindern von Einwanderern die italienische Staatsangehörigkeit. Ist das noch eine Priorität für Sie?
Natürlich, denn es kann keine politischen Spekulationen über die Bürgerrechte von Hunderttausenden "de-facto-Italienern" geben. Jeder, der behauptet, dass damit Staatsbürgerschaften leichtfertig verteilt würden, lügt: Die Kriterien für eine Anerkennung sind streng. Mit der Aussetzung des jus soli wird die innere Sicherheit in Italien untergraben, denn vollständige Exklusion fördert nur Ressentiments und Feindseligkeit. Staatsbürgerschaft ist das Ziel, mit dem man Integration fördern kann, das effektivste Werkzeug, um echte Sicherheit zu schaffen.
Laut einer Studie der Forschungszentren Epicenter und Timbro ist der Anstieg populistischer Kräfte in Europa "unaufhaltsam". Beunruhigt Sie das?
Es ist ein alarmierendes Phänomen, das die EU in der schwächsten Phase ihrer Geschichte erwischt hat. Aber nur standhaft zu sein und zu hoffen, dass der Sturm vorbeizieht, reicht nicht. Europa zahlt auch für sein unvollständiges Konstrukt. Auf den Druck der Populisten und von zerstörerischen Kräften, die eine Rückkehr zu nationalen Grenzen fordern, muss man mit einer Wiederauflage des eigentlichen Projekts antworten: Einer föderalen Union von Staaten. Nur dann können die europäischen Staaten, egal ob groß oder klein, die Hoffnung haben, im internationalen Wettbewerb zu bestehen.
Glauben Sie, dass die europäische Sparpolitik das Erstarken der Populisten gefördert hat?
Sparsamkeit war der wertvollste Partner der Populisten, weil es die harte Seite der EU gezeigt hat. Eine Härte, die als Reaktion auf die Krise nicht von Nutzen war. Wenn wir das Spiel der Populisten beenden wollen, muss Europa seine soziale Berufung wiederfinden und die Arbeit und nachhaltige Entwicklung zum Fokus seines Programms machen. Brüssel muss zeigen, dass es die dramatische Abnahme der Mittelklasse ebenso erkannt hat wie die untragbare Jugendarbeitslosigkeit. So könnte die EU beispielsweise Arbeitslosen eine finanzielle Unterstützung zahlen. Wenn sie das täte, würde sich ihre Wahrnehmung bei den Bürgern deutlich ändern.
Die Wachstumsraten der italienischen Wirtschaft sind höher als erwartet. Trotzdem lebten laut des italienischen Statistikamts im vergangenen Jahr 4,7 Millionen Menschen in absoluter Armut. Was muss die Politik tun?
Die Politik hat noch nicht verstanden, dass wachsende Ungleichheit die größte Herausforderung heutzutage ist. Wir sind an dem Punkt angelangt, dass die soziale Krise die Grundlagen der Demokratie in vielen Ländern zersetzt. Die Bürger denken: "Was nützt mir die Demokratie, wenn sie mir keine vernünftige Rente und meinem Kind keinen Arbeitsplatz garantiert?"
Laura Boldrini ist 2013 als unabhängige Kandidatin der links-ökologischen Freiheitspartei zur Vorsitzenden der italienischen Abgeordnetenkammer gewählt worden. Zuvor war sie 14 Jahre lang Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR).