Lateinamerika totzt der Weltwirtschaftskrise
23. Januar 2009Ein Gespenst geht um in der Welt - die Rezession lehrt Politiker, Manager und Arbeiter gleichermaßen das Fürchten. In den Industrieländern werden weiterhin milliardenschwere Rettungspakete für die Banken und die sogenannte Realwirtschaft geschnürt. Jetzt hoffen die Regierungen in Europa und den USA nur, dass die beschlossenen Maßnahmen auch ausreichen, um das Vertrauen in die Wirtschaft wieder herzustellen und das schlimmste abzuwenden. Doch Entlassungen und Pleiten sind nach wie vor an der Tagesordnung.
Es gibt aber auch Regionen, die möglicherweise recht glimpflich davon kommen könnten. Dazu zählt Lateinamerika - so Christian Daude, Lateinamerika-Experte der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Einen starken Abschwung werde die Region wohl erleben, so Daude im Gespräch mit DW-radio, aber keine Krise. "Im Gegensatz zu den Industrieländern gibt es in Lateinamerika keine Probleme im Bankensystem - und es zeichnen sich kurzfristig auch keine Finanzprobleme ab."
Musterland Chile
Als Positivbeispiel für eine erfolgreiche wirtschaftliche Stabilisierung nennt Daude "das Musterbeispiel Chile". Der Staat Land habe ein Großteil der Einnahmen aus dem Kupferexport gespart. "Chile ist das einzige Land, in dem die Fiskalpolitik in diesem Jahr eindeutig antizyklisch eingesetzt wird", so OECD-Experte Daude. Aber auch andere Länder, wie Brasilien, Mexiko, Kolumbien und Peru hätten ihre Hausaufgaben gemacht und stehen jetzt durchaus stabil da.
Gerechtere Steuersysteme gefordert
Noch immer bleibt die Steuer- und Ausgabenpolitik in Lateinamerika jedoch hinter ihren Möglichkeiten zurück. Sozialausgaben haben bislang nicht nennenswert zur einer Umverteilung des Volkseinkommens beigetragen, kritisiert Christian Daude. Die ärmeren Bevölkerungsschichten hätten von den Boomjahren nicht profitiert.
Aber erste Ansätze zu Steuerreformen, wie z. B. in Chile, Mexiko und Uruguay, gehen in die richtige Richtung, sagt Daude. Die "große Herausforderung für die Regierungen der Region besteht jetzt darin, die Armut nicht weiter anwachsen zu lassen", konstatiert Daude. Dafür sei es nötig, jetzt, trotz der Weltwirtschaftskrise, "antizyklisch" zu handeln. Die Staatsausgaben müssen steigen und die Steuern sinken. Nur so sei es möglich, den Bildungs- und Gesundheitssektor effizient zu verbessern und die Binnennachfrage anzukurbeln.
Das gesamte Interview hören Sie in Fokus Amerika.
Bolivien: Fortschritt oder Rückfall?
Am 25. Januar stimmen die Bolivianer über eine neue Verfassung ab. Und Meinungsumfragen zufolge wird die Mehrheit den vorgelegten Entwurf akzeptieren. Die neue Verfassung erklärt das Land zu einem „plurinationalen Staat", schreibt die Koka als festen Bestandteil des „kulturellen Erbes" fest und stellt in Artikel 179 die traditionelle indianische Justiz der normalen Justiz gleich. Fällt diese „kommunitäre Justiz" ein Urteil, müssen Polizei und die anderen staatlichen Stellen Amtshilfe leisten.
Wie und ob die indigene Justiz funktionieren wird, kann heute niemand sagen. Die Meinungen sind geteilt. Für die einen steht sie für mehr Gerechtigkeit, andere fürchten einen Rückfall ins Mittelalter.
EIN Justizsystem mit zwei gleichwertigen Untersystemen soll entstehen. Doch nirgendwo sind die Gesetze oder Regeln der kommunitären Justiz aufgeschrieben. Die neue Verfassung definiert Bolivien als einen Staat bestehend aus 36 indianischen Völkern - zuzüglich der Mestizen und Weißen. Und jedes dieser 36 Völker hat eigene Gewohnheiten, folglich auch eigene Gesetze.
Die kommunitäre Justiz kennt keinen Freiheitsentzug. Sie straft, bei leichten Vergehen, mit öffentlicher Bloßstellung, Geldstrafen und physischer Züchtigung. Mit Chicote, Peitschenhieben. Schwere Vergehen werden mit Verstoß aus der Gemeinschaft und sogar mit dem Tod geahndet, etwa die Befehlsverweigerung, Viehdiebstahl und Missbrauch von Minderjährigen.
Redaktion: Mirjam Gehrke