Lammerts scharfe Replik auf Erdogan
9. Juni 2016Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat die Angriffe des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan auf türkischstämmige Abgeordnete mit scharfen Worten zurückgewiesen. "Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik an demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich nicht für möglich gehalten", sagte der zweithöchste Repräsentant der Bundesrepublik im Bundestag. "Die Verdächtigung von Mitgliedern dieses Parlamentes als Sprachrohr von Terroristen weise ich in aller Form zurück."
Lammert: Angriff auf Parlament
Nach der Verurteilung der Massaker an den Armeniern vor rund 100 Jahren als Völkermord im Bundestag hatte Erdogan türkischstämmige Abgeordnete wegen ihres Abstimmungsverhaltens als verlängerten Arm der verbotenen kurdischen PKK bezeichnet. Er verlangte auch, sie sollten ihr Blut im Labor testen lassen. Im Internet wurden die türkischstämmigen Parlamentarier massiv bedroht.
"Die zum Teil hasserfüllten Drohungen und Schmähungen sind leider auch durch Äußerungen hochrangiger türkischer Politiker befördert worden", beklagte Lammert mit Blick auf die Äußerungen Erdogans. Die Armenier-Resolution, die vor einer Woche fast einstimmig verabschiedet worden war, hatte heftige Reaktionen in der Türkei ausgelöst. Bei den Massakern durch das Osmanische Reich waren im Ersten Weltkrieg bis zu 1,5 Millionen Menschen ums Leben gekommen.
"Wir stellen uns jeder Kritik und wir ertragen auch persönliche Angriffe und Polemik", sagte der Bundestagspräsident. "Doch jeder, der durch Drohungen Druck auf einzelne Abgeordnete auszuüben versucht, muss wissen: Er greift das ganze Parlament an." Lammert kündigte an: "Wir werden darauf entsprechend reagieren mit allen Möglichkeiten, die uns im Rahmen der Gesetze zur Verfügung stehen." Allen Abgeordneten, die im Zusammenhang mit ihrer politischen Tätigkeit bedroht oder unter Druck gesetzt würden, gelte die Solidarität des gesamten Parlaments.
Aufruf an türkische Organisationen
Lammert sagte, die Türkische Gemeinde Deutschlands und der Türkische Bund Berlin-Brandenburg hätten die Schmähungen gegen Abgeordnete zurecht als abscheulich und inakzeptabel kritisiert. "Ich würde mir wünschen, dass auch andere der zum Teil sehr großen türkischen Organisationen in Deutschland ebenso Partei für die Abgeordneten und unsere Demokratie ergreifen - mit ähnlich klaren und eindeutigen Stellungnahmen, wie sie bei anderen Gelegenheiten häufig sehr schnell und sehr lautstark abgegeben werden."
Ursprünglich hatte die Linksfraktion wegen der Attacken Erdogans eine Aktuelle Stunde im Parlament beantragt. Angesichts der klaren Worte Lammerts zog die Fraktion den Antrag kurzfristig zurück. Die Debatte wurde abgesetzt.
Auch die Bundesregierung hatte die Angriffe und Drohungen gegen Abgeordnete kritisiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Dienstag, die deutschen Parlamentarier seien frei gewählte Abgeordnete und die Vorwürfe von türkischer Seite für sie "nicht nachvollziehbar". Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der nach Lammert das Wort bekam, dankte dem Bundestagspräsidenten "ganz herzlich" für die "klaren Worte".
Wütender Brief von Schulz an Erdogan
Mit scharfen Worten reagierte unterdessen auch der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), auf die Attacken Erdogans gegen Bundestagsabgeordnete. "Parlamentarier, die sich im Rahmen ihres Mandats positionieren, dürfen unbeschadet etwaiger Meinungsverschiedenheiten in einer politischen Frage keinesfalls in die Nähe von Terroristen gerückt werden", heißt es in einem Brief von Schulz an Erdogan, aus dem Spiegel-Online Auszüge veröffentlichte. "Ein solches Vorgehen stellt einen absoluten Tabubruch dar, den ich aufs Schärfste verurteile." Die freie Mandatsausübung von Abgeordneten sei ein "entscheidender Grundpfeiler unserer europäischen Demokratien".
In dem Brief stellt sich Schulz zugleich vor oppositionelle türkische Parlamentarier, deren Immunität diese Woche per Gesetz aufgehoben wurde. Eine Reihe der betroffenen Parlamentarier "zählen zu meinen langjährigen Kollegen und stehen mir zum Teil auch persönlich sehr nahe", schrieb der Präsident des Europaparlaments. "Ich fühle mich verpflichtet, diese Kolleginnen und Kollegen, wo es mir möglich ist, zu schützen."
cr/sti (dpa, afp, rtr)