Kunst trifft Industrie
26. August 2012Ein Choreograph und Politiker aus Samoa bespielt mit Tänzern aus seiner Heimat, Schauspielern, Sängern und Musikern die riesige Kraftzentrale eines ehemaligen Stahlwerks in Duisburg. In Essen gibt es eine Ausstellung mit lebenden Menschen als Kunstwerken, die demnächst nach Sydney und Moskau weiter zieht. 17 französische Kinder tanzen mit Maschinen in der Bochumer Jahrhunderthalle. Und auf einer Abraumhalde bei Bottrop trommelt die japanische Band Boredoms gemeinsam mit Schlagzeugern aus dem Ruhrgebiet in die Nacht hinein. Es ist wieder Ruhrtriennale, das Theaterfestival in den Industriedenkmälern des Ruhrgebietes. Seit 2002 versammeln sich hier jedes Jahr ungewöhnliche internationale Künstler. Nur eines gibt es nicht: Theater, wie man es kennt.
Spiritualität und Gesellschaftskritik: Lemi Ponifasio
Der Raum ist gewaltig. 170 Meter lang, 35 Meter breit. In der Kraftzentrale wurde früher einmal Strom erzeugt und Wind für die Hochöfen der Kohlekraftwerke. Nun liegt die einstige Zentrale da, leer und riesig. Solche Räume gibt es nur an wenigen Orten auf der Welt. Die Hallen und Halden, die Zechen und Kokereien des Ruhrgebiets sind gigantische Herausforderungen für jeden Künstler, der in ihnen arbeitet. Denn ihrer Aura muss man kraftvolle Bilder und Ideen entgegensetzen.
Lemi Ponifasio stellt sich diesem Riesenraum. Er kommt von der Insel Samoa vor Neuseeland, ist dort Politiker. "Stammesfürst" schreiben manche. Doch das hört er nicht gern. "Da denkt ihr doch gleich an Indianer, oder?" Ponifasio hat fern des europäischen Kulturverständnisses eine eigene Form des Tanztheaters entwickelt, nah an der Natur. "Die Menschen nehmen sich viel zu wichtig", sagt er. Dabei inszeniert er eine Oper, in der es um den Gott geht, der sich auf die Seite der Menschen stellte.
Carl Orff, bekannt durch die "Carmina Burana" komponierte seine Oper "Prometheus" nach einem altgriechischen Text. Doch Ponifasio will nicht die Geschichte bebildern, die das Stück erzählt. Er entwickelt mit seinen Tänzern eigene Szenen zu Orffs Musik. Neben deutschen Schauspielern sind es vor allem Tänzer aus Ponifasios Heimat. Menschen, die er lange kennt. "Ich arbeite nur mit Leuten, mit denen ich auch den Rest meines Lebens verbringen würde", so Ponifasio.
Die Leichtigkeit des Nichts: Robert Wilson und John Cage
Normales Theater mit psychologischen Charakteren und einer Handlung gibt es bei der Ruhrtriennale nicht. Der Anfang des Festivals stand ganz im Zeichen von John Cage, dem vor hundert Jahren geborenen Komponisten und Philosophen des Nichts. Die Eröffnungsinszenierung bestand aus den ersten beiden Teile von Cages "Europeras". Der Amerikaner hat Opern in ihre Einzelteile zerlegt, in Arien, Orchestermusik, Bühnenbilder, Kostüme, Gesten der Sänger. Die Zusammenfügung überließ er dem Zufall, genauer dem chinesischen Orakel I-Ging.
Mehrere Arien werden gleichzeitig gesungen, Bühnenbilder auf- und wieder abgebaut. Die Sänger tragen Kostüme, die nicht zu ihren Rollen passen. Es müsste ein einziges Chaos entstehen. Tut es aber nicht, überraschenderweise klingt das musikalische Durcheinander oft harmonisch, als wäre es in einer Tonart komponiert. 32 Assistenten bauen vor den Augen des Publikums Tempel, Palazzi und einen Zauberwald auf. Große Steine rollen auf die Bühne, ein Kronleuchter schwebt von der Decke. Was vielleicht mal als Vernichtung der Oper geplant war, wird zu einer liebevollen Verbeugung. Alle Aufführungen sind ausverkauft, nach jeder wird wohl heftig diskutiert werden.
Viele Künstler bleiben ein oder zwei Monate im Ruhrgebiet und proben ihre Aufführungen. Der amerikanische Star-Regisseur Robert Wilson kommt für einige Tage und bringt im Eiltempo John Cages "Lecture on Nothing" auf die Bühne. Ein Abend über das Nichts, experimentelle Literatur und Wortmusik. Wilson, der oft mit maskenhaften Gesichtern und zeitlupenartigen Bewegungen arbeitet, war schon einmal bei der Ruhrtriennale. Die Atmosphäre der Hallen zieht ihn an.
Seine Lesung auf einer mit Zeitungen übersäten Bühne gerät überraschend leicht und spontan. Der 70-jährige Wilson reagiert auf hustende Zuschauer, zwinkert ins Publikum, zeigt Entertainerqualitäten. Obwohl es um pure Philosophie geht, um die Schönheit des Schweigens, das Leben im Augenblick, den Verzicht auf Besitz, um Freiheit zu erlangen. "Dieser Text kann lustig sein, spannend, laut und aggressiv, leicht und berührend", schwärmt Robert Wilson direkt nach der Aufführung in seiner Garderobe. "Aus nichts kann man so viel machen."
Der unhöfliche Blick – Menschen als Kunstwerke in "12 Rooms"
Man glotzt andere Leute nicht an. So sind wir erzogen. Aber wenn wir könnten oder vielleicht unsichtbar wären, täten wir es doch. Bei der "Live Art Group Show" im Museum Folkwang Essen ist das möglich. Man soll die Leute, die dort in zwölf Räumen auf Publikum warten, anstarren, denn sie sind lebende Kunstwerke. "12 Rooms" ist eine Mischform aus Kunst und Theater, die schon in Manchester zu sehen war und nach der Ruhrtriennale nach Sydney, Moskau und an weitere Orte wandern wird.
Das Mädchen ist vielleicht zwölf Jahre alt. Es bewegt sich wie ein Roboter, ungelenk und künstlich. Der Blick ist kalt. Ann Lee, so heißt das Kind, spricht die Zuschauer im drückend heißen, weißen Raum direkt an. Sie war eine Figur aus einem Manga-Comic. Nun hat Ann Lee menschliche Gestalt bekommen. Die Welt draußen kennt sie noch nicht. Die Besucher sind ihr einziger Kontakt zu einem neuen Leben, dessen Regeln sie erlernen will. Sie probiert Höflichkeitsfloskeln aus, stellt Fragen nach dem Sinn. Keiner weiß überzeugende Antworten.
Was in den zwölf Räumen passiert, hängt vom Besucher ab. Wenn er auf Distanz bleibt, sieht er rätselhafte Bilder. Eine nackte Frau zum Beispiel, die mit einem Handspiegel intensiv ihren Körper betrachtet. Oder einen jungen Mann, der in eine Ecke starrt. "Veteranen aus Kriegen in Jugoslawien, Bosnien, Kosovo, Serbien und Somalia mit Blick zur Wand" heißt das Werk des spanischen Konzeptkünstlers Santiago Sierra.
Die beiden weltweit agierenden Kuratoren Klaus Biesenbach und Hans-Ulrich Obrist zeigen eine spannende Schau, an der sich viele prominente Künstler beteiligt haben. Der Brite Damien Hirst zum Beispiel setzt genau gleich gekleidete Zwillinge unter leicht verschiedene Vierecke mit bunten Punkten. Einer der eindrucksvollsten Räume aber hat das puertoricanische Künstlerpaar Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla mit einer menschlichen Drehtür geschaffen. Zehn junge Leute halten sich an den Händen und drehen sich durch den Raum, stoppen, wechseln die Richtung. Wer sich ihnen in den Weg stellt, wird weiter gedrängt. Menschen werden zur Maschine, die gnadenlos läuft, niemand schaltet sie ab. Widerstand ist zwecklos.
Diese Ruhrtriennale präsentiert sich als Abenteuer für alle Sinne. Der neue Intendant Heiner Goebbels wünscht sich "mündige Zuschauer", die sich keine Geschichten und Interpretationen vorbeten lassen, sondern sich ihre eigenen Erlebnisse schaffen.
Die Ruhrtriennale hat am 17. August begonnen und dauert noch bis zum 30. September 2012