Kubas Wirtschaft im Würgegriff
13. August 2019DW: Jahrelang hat die kubanische Regierung auf die wiederkehrende Forderung aus der Bevölkerung nach Lohnerhöhungen entgegnet, die könne es erst geben, wenn die Produktivität steigt. Anfang Juli nun hat sie die Löhne im Staatssektor massiv angehoben. Von einigen wurde das als "populistische Maßnahme" bezeichnet. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?
Carmelo Mesa-Lago: Ich denke, dass die Anhebung der Gehälter für knapp die Hälfte des gesamten staatlichen Sektors eine schlecht überlegte Reaktion ist auf den Druck des Preisanstiegs wegen der Versorgungsengpässe an Lebensmitteln und anderen Verbrauchsgütern. Unter Präsident Raúl Castro waren die Lohnzuwächse gering, mit dem richtigen Argument, dass zuerst die Produktivität gesteigert werden müsse - sowie die Produktion, obwohl dies nicht ausgesprochen wurde. Trotz des erheblichen nominalen Anstiegs - mit 37,7 Prozent der höchste seit 20 Jahren - liegen die Löhne inflationsbereinigt immer noch 46 Prozent unter dem Niveau von 1989. Das heißt: die Kaufkraft von Staatsbediensteten ist um 46 Prozent gesunken. Auch die neuen Gehälter reichen bei Weitem nicht aus. Und schließlich befindet sich der Rest des Staatssektors weiterhin in einer Lage, die der Situation vor der Lohnerhöhung entspricht, und wird somit von der nachfolgenden Inflation besonders betroffen sein.
Woher nimmt die Regierung die Haushaltsmittel, um die Gehaltserhöhungen zu finanzieren? Besteht nicht die Gefahr, dass einfach die Geldmenge erhöht, also neues Geld gedruckt wird?
Ich sehe keine andere Lösung, als die Geldemission zu erhöhen. Es sei denn, die Produktion wird gesteigert, insbesondere in der Landwirtschaft, was sehr zweifelhaft ist. In ihren Jahrbüchern veröffentlicht die staatliche Statistikbehörde ONEI Zahlen monetärer Liquidität in den Händen der Bevölkerung als Prozentsatz des BIP. Diese Rate wuchs von 34 Prozent im Jahr 2004 auf 59 Prozent im Jahr 2018 und ist damit die höchste seit den Krisenjahren Anfang der 1990er.
Die Gehaltserhöhungen erfolgen zu einem Zeitpunkt, da die Regierung sich eigentlich Austerität verordnet hat. Wie bewerten Sie diesen Widerspruch?
Ich halte es für eine politische Maßnahme, um zu zeigen, dass die Regierung den Staatsbediensteten hilft - angesichts des Niedergangs der kubanischen Wirtschaft durch die Wirtschaftskrise in Venezuela und aufgrund von Trumps Strafmaßnahmen, die unter anderem ausländische Investitionen und den Tourismus schädigen, und sich zusätzlich auf den Preisanstieg von Lebensmitteln auswirken. Ich stimme zu, dass es ein Widerspruch zur Sparpolitik der Regierung ist, die zudem die nachteiligen wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahme auf die Finanzstabilität nicht berücksichtigt.
Die Kaufkraft wird erhöht, ohne dass sich das Warenangebot merklich verbessert. Im Gegenteil, zuletzt gab es immer wieder Engpässe bei Waren des täglichen Bedarfs: Mehl, Eier, Speiseöl usw. Erhöht sich dadurch nicht die Inflationsgefahr?
Natürlich wird die Inflation zunehmen, weil die Lohnerhöhung die Nachfrage steigert; und wenn die Nahrungsmittelproduktion nicht zunimmt, führt dies zu Inflation. Die offiziellen Zahlen des Verbraucherpreisindex (VPI), der die Inflation misst, deuten darauf hin, dass diese sehr niedrig ist. Aber die Zahlen sind aus mehreren Gründen nicht zuverlässig: Erstens wird in der stark zentralisierten Wirtschaft Kubas ein Großteil der Preise nicht durch Angebot und Nachfrage sondern die Regierung festgelegt, was den VPI künstlich senkt.
Zweitens hat ONEI nie den zu Grunde liegenden Warenkorb von Waren und Dienstleistungen veröffentlicht, mit dem der VPI gemessen wird, so dass es unmöglich ist, seine Zuverlässigkeit zu überprüfen. Und drittens werden bei der Berechnung des VPI nur Transaktionen in nationalen Pesos (CUP) berücksichtigt, diejenigen in konvertierbaren Pesos (CUC), die beträchtlich sind, dagegen nicht, sodass die Inflation unterschätzt wird. Aus all diesen Gründen ist die oben erwähnte Liquiditätsrate ein viel besserer Indikator als die Inflation. Eine anderer wären die langen Schlangen vor den Bodegas und Lebensmittelgeschäften.
Ende Juli wurden Preisobergrenzen eingeführt - auch im Privatsektor. Eine sinnvolle Maßnahme?
Die Maßnahme ist widersprüchlich und ebenso irrational wie die andere. Die Regierung hat immer versucht, die Marktpreise festzusetzen oder zu begrenzen, aber wenn sie dies macht, greifen die Leute auf Alternativen zurück: Sie verstecken die Produktion und leiten sie in den informellen Sektor [also auf den Schwarzmarkt; Anm. der Red.] um, tauschen, erhöhen den persönlichen Verbrauch usw.
Im Jahr 2016 versuchte die Regierung aufgrund des Preisanstiegs bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die Preise der Landwirte zu kontrollieren, die Zwischenhändler zu beseitigen und begrenzte ihrerseits die Preise in den staatlichen Märkten, was eine kostspielige Subvention implizierte. Viele kubanische Ökonomen und ich kritisierten die Maßnahme auch wegen der genannten Reaktionen und da sie mittel- und langfristig finanziell untragbar wäre. Marino Murillo...
…Vizepräsident des Ministerrates und damals Koordinator des Umbaus des kubanischen Wirtschaftssystems…
... berichtete irgendwann, dass die Maßnahme von der Bevölkerung sehr gut aufgenommen wurde, insbesondere von jenen mit geringeren Einkommen, räumte jedoch ein, dass die Lebensmittelimporte gestiegen seien und dass diese Politik nicht nachhaltig sei. Vor ein paar Jahren wurde versucht, Höchsttarife für private Taxis einzuführen; die streikten, und die Regierung musste Busse importieren und schaute schließlich [bei den Tarifen, Anm.der Red.] weg. Es werden keine Lehren aus der Vergangenheit gezogen und Fehler, wie die jüngsten Preisgrenzen für den privaten Sektor, wiederholt.
Carmelo Mesa-Lago (geb. 1934), kubanisch-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Kubaexperte, Distinguished Service Professor Emeritus on Economics and Latin American Studies an der University of Pittsburgh.