Krisenwinter: Kältehilfe für Obdachlose
6. November 2022Bittere Kälte, Schnee und Eis. Noch fühlt sich das in Deutschland bei milden Herbsttemperaturen sehr weit weg an. Aber der Winter wird kommen und Obdachlose werden Schutz suchen, wie in jedem Winter. Doch dieser Winter könnte anders als viele zuvor werden.
Im offenen Café der Ambulanten Wohnungshilfe der evangelischen Diakonie in der Ruhrgebietsstadt Oberhausen sitzen Christian und Michael beim späten Frühstück. Ihre Nachnamen wollen sie nicht nennen. Beide sind derzeit ohne feste Bleibe. Und bei beiden ist das ohnehin knappe Geld gefühlt in den letzten Monaten noch viel weniger geworden. "Das Geld reicht vorne und hinten nicht", erzählt Michael, der durch eine Trennung in eine Lebenskrise geraten ist. "Früher habe ich beim Shoppen immer einen großen Einkaufswagen genommen, jetzt krieg' ich für das gleiche Geld nur noch ein Körbchen voll." Die Inflation sei wohl daran schuld, vermutet der müde wirkende junge Mann.
Auch Christian, der gerade aus der Haft entlassen wurde und keine Wohnung hat, stöhnt über die immer teurer werdenden Waren in den Supermärkten. "Die Lebensmittel unter zwei Euro sind ständig ausverkauft", hat er festgestellt. Das liege wohl auch an der Energie- und Wirtschaftskrise, vermutet er. Beiden graut vor den heraufziehenden kalten Tagen, an denen sie wohl häufig draußen sein werden - oder sein müssen. Christian, so sagt er, habe zwar Respekt vor dem aufziehenden Winter, "aber keine Angst".
Relative Ruhe vor dem Sturm?
Beide beginnen das Krisengemisch zu spüren, das aus steigender Geldentwertung, höheren Energiepreisen und schrumpfendem Wohnungsangebot - auch durch die vielen Ukrainevertriebenen, die Deutschland aufgenommen hat - besteht.
Frank Bremkamp, der die Diakonieeinrichtung leitet, hat das Gefühl, dass "ein harter Winter auf uns zukommen könnte". Doch "die Krisen sind noch nicht so richtig bei den Hilfsbedürftigen angekommen", sagt er im Gespräch mit der DW. Vielleicht sei das so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Bremkamp ist ein alter Hase in der Sozialarbeit in der ehemaligen Industriestadt Oberhausen, die rund 210.000 Einwohner hat, und wo derzeit schätzungsweise 300 Obdach- und Wohnungslose leben. Er weiß, dass die bedürftigen Menschen erst dann kommen, wenn es wirklich hart - also bitterkalt - wird.
"Wir sind gerüstet für die kalten Tage. Unser Winterangebot steht", sagt Bremkamp. Nur dicke Schuhe und ausreichend warme Kleidung fehle noch, erläutert der Sozialarbeiter.
Gut gefüllt hingegen sind die Keller mit Zelten und Schlafsäcken. Gerade haben sie hier eine besondere Spende hereinbekommen: 20 sogenannte Shelter-Suits; wasserdichte Jacken mit Schlafsackfunktion und eingearbeitetem Schal. Angeschafft haben sie auch mehrere kleine batterielose Lampen, die man aufziehen kann, um Licht zu machen. Auch wenn es hart auf hart komme in diesem wenig kalkulierbaren Krisenwinter, bleibt Bremkamps Motto: "Bei uns geht keiner verloren!"
Verbände schlagen Alarm
Sorgen macht man sich beim Bundesverband von Bremkamps Diakonie. Der soziale Dienst der evangelischen Kirche appelliert schon vor Wintereinbruch an Städte und Gemeinden, für eine ausreichende Zahl an Übernachtungs- und Aufenthaltsplätzen für wohnungslose Menschen zu sorgen. "Die steigenden Lebensmittelpreise belasten wohnungslose Menschen enorm. Und sie können sich von ihrem wenigen Geld kaum noch etwas kaufen", erklärte kürzlich Maria Loheide, die Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. "Dieser Winter wird für die Menschen, die auf der Straße leben, eine besondere Herausforderung", sagte Loheide weiter.
Bei der Stadtverwaltung Oberhausen hält man nicht viel von derartigem Alarmismus. Es gebe nur sehr wenige Menschen in der Stadt, die ohne Wohnung und wirklich obdachlos seien. Außerdem unterhalte Oberhausen eine Einrichtung mit maximal 60 Plätzen, die Alleinstehende, Paare und auch ganze Familien beherbergen könne.
Auch Marc Wroblewski arbeitet in Oberhausen für die, die kein Dach mehr über dem Kopf haben. Er leitet die katholische Caritas-Einrichtung Carl-Sonnenschein-Haus; temporärer Wohnort für 70 Menschen. In den kalten Wintermonaten werde immer durch zusätzliche Plätze vorgesorgt. Für kurzfristig Hilfesuchende "schaffen wir schnell eine Unterbringungsmöglichkeit", sagt Wroblewski. Das könne der Freizeitraum sein oder ein Gartenhaus, das fünf Plätze biete, sagt Wroblewski weiter. "Ein warmes Plätzchen haben wir immer noch gefunden", ergänzt er.
Die Arbeit in der Facheinrichtung der Wohnungslosenhilfe habe sich zwar durch Corona verändert - es gibt weniger verfügbare Plätze -, bislang aber noch nicht durch die Energiekrise und die drohende Inflation. "Das wird sich wohl erst im kommenden Jahr bemerkbar machen, wenn die Leute ihre hohen Energierechnungen bekommen und eine Kündigung droht."
Pläne der Koalitionsregierung
Wie viele Menschen in Deutschland auf der Straße leben, weiß niemand so genau. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales geht von 374.000 Menschen aus, die ohne jede Unterkunft und obdachlos sind; Platte machen, wie es heißt. Sie sind in den Wintermonaten schutzlos der Kälte ausgesetzt. Hinzu kommen noch einmal rund 178.000 Menschen ohne eigene Wohnung, die aber meist in Not- oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, hat das Statistische Bundesamt ermittelt.
Auch sie können sehr schnell zu Obdachlosen werden. Fachleute rechnen mit einer hohen Dunkelziffer. Eines ist aber deutlich: Die Zahlen steigen an. Dem will die Koalitionsregierung aus SPD, Grünen und FDP entgegenwirken. Der Plan: bis 2030 soll Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit bekämpft sein. "Jeder, der eine Wohnung braucht, muss auch eine bekommen können", sagte die zuständige Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) kürzlich in einem Interview. Bezahlbares Wohnen sei der Schlüssel zur Bekämpfung von Armut und Obdachlosigkeit.
Marc Wroblewski vom Carl-Sonnenschein-Haus begrüßt diesen Vorstoß aus der Politik - jedenfalls im Prinzip. "Ausreichend Wohnraum ist schon der richtige Weg", sagt er der DW. Aber das werde nicht alle Probleme lösen, die Menschen haben, die zum Beispiel bei seiner Caritas-Einrichtung Hilfe suchen würden. Da kämen Leute mit Suchtproblemen oder aus zerrütteten Familien. Menschen, die sich aufgegeben hätten.
Ein ambitioniertes Wohnungsbauprogramm des Bundes helfe da erst einmal nicht. Insoweit sei der Regierungsplan "sehr utopisch", resümiert Caritas-Mann Wroblewski. Auch Frank Bremkamp von der Diakonie spricht von einem "Ziel, das man nicht aus den Augen verlieren" solle. Aber auch er glaubt nicht daran, dass man innerhalb von nur acht Jahren Zehntausenden von Menschen ein Dach über dem Kopf verschaffen könne. Jetzt müsse den bedürftigen Menschen erst einmal über den vor der Tür stehenden nächsten kalten Krisenwinter geholfen werden.