Einer gegen 445
2. Mai 2014Nein, sagt Ilya Ponomarev, dass sie ihn in den sozialen Medien beschimpft hätten und ihm, dem "Verräter", gedroht hätten, ihn umzubringen, dass sie sogar die Wohnung seiner Assistentin durchsucht hätten - all das hätte ihn nicht überrascht. Im Gegenteil: "Ich hatte mir schon gedacht, dass so etwas passieren könnte." Seine Stimme klingt gelassen. Ponomarev hatte am 20. März in der Duma gegen die Annexion der Krim gestimmt. Er war der Einzige: Die anderen 445 Abgeordneten, die an dem Tag anwesend waren, stimmten dafür.
Die Abstimmung folgte auf ein Referendum, in dem die Mehrheit der Bewohner der Krim für den Anschluss an Russland gestimmt hatte. Ein "sogenanntes Referendum", so nennt es der Sprecher der Bundesregierung Steffen Seibert, das klar gegen geltendes internationales Recht verstoße. Ponomarev sagt, er habe gegen die Annexion gestimmt, weil er sie für strategisch falsch halte: "Sie führt doch zu einer Spaltung zwischen Russland und der Ukraine. Das provoziert Krieg - und wir verlieren die Ukraine als unseren Verbündeten."
Aber nicht nur Russland, auch der Westen solle sich von der Ukraine fernhalten. "Die Ukraine soll ihre Probleme alleine lösen." Natürlich sei er nicht der einzige Abgeordnete gewesen, der so denke. Aber die anderen hätten sich bedeckt gehalten - aus Angst vor Repressalien.
Eine Angst, die wohl begründet war: Nach der Abstimmung begannen die Anfeindungen gegen den Abgeordneten, der die Stadt Nowosibirsk vertritt. Morddrohungen in sozialen Medien, Beschimpfungen - Ponomarev nimmt sie betont gelassen. All das, sagt er, sei bloß eine gezielte Medienkampagne, um ihn zu verunglimpfen, angezettelt durch die Staatsspitze. "Die tun so, als sei das der echte Volkszorn." In der Öffentlichkeit, sagt er, habe er dahingegen keine negativen Reaktionen erlebt. "Auf der Straße habe ich kein einziges böses Wort gehört."
Pläne für schärfere Abgeordnetengesetze
Ob das stimmt, kann die Deutsche Welle selbstverständlich nicht überprüfen. Klar ist, dass wohl eine große Mehrheit der Russen die Annexion unterstützt. Das gibt auch Ponomarev zu. "Die Annexion war schon populär im Land." Das sei ihm egal gewesen, sagt der der 38-Jährige. Er habe nicht gegen seine Überzeugungen und sein Gewissen stimmen können. Die Geschichte werde zeigen, dass er richtig gehandelt habe. Und: "Mein Gewissen ist so rein wie ein Diamant."
Das sehen offenbar nicht alle so: Erst habe seine Partei, "Gerechtes Russland", erfolglos versucht, ihn auszuschließen. Dann habe der Vorsitzende dieser Oppositionspartei, die großteils aber eine Pro-Kreml-Linie fährt, einen Gesetzesentwurf eingebracht. Diese sieht vor, dass ein Fraktionschef sich von Abgeordneten entledigen kann, die gegen die Parteilinie stimmen. Schließlich fürchtet Ponomarev, dass man auch rechtlich gegen ihn vorgehen könnte. "Das wird natürlich nicht direkt mit der Abstimmung zusammenhängen. Sie würden so tun, als hätte ich Gelder hinterzogen, solche Dinge." Sollte es dazu kommen, werde er sich schon zu verteidigen wissen. Er lacht: "Keine Sorge." Ob er Angst habe, wie andere Kritiker im Gefängnis zu landen? Ponomarev schweigt eine Weile. "Ja, möglich ist das schon", sagt er schließlich.
Ein politisiertes Gerichtsverfahren? Ein russischer Journalist, der für einen Staatssender arbeitet, wischt die Ängste beiseite. "Ach, das sagt er doch nur für die ausländischen Medien, um sich wichtig zu machen." Ponomarev hätte wissen müssen, dass es "eine schlechte Idee war", gegen die Krim-Annexion zu stimmen.
"Die härtesten Repressalien seit Ende der Sowjetunion"
Dem widerspricht Tanya Lokshina von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch: Die politische Instrumentalisierung von Gerichtsprozessen sei tatsächlich ein beliebtes Instrument der Führung in Moskau, um gegen Oppositionelle vorzugehen. Seit seiner Wiederwahl vor zwei Jahren gehe Wladimir Putin äußerst hart gegen Kritiker vor - auch Lokshina und ihre Mitarbeiter in Moskau seien Anfeindungen ausgesetzt. "Da gibt es keinen Zweifel: Wir erleben gerade die härtesten Repressalien gegen Kritiker seit dem Ende der Sowjetunion."
Die Regierung, betont Lokshina, benutze die Ukraine-Krise, um die Zügel noch weiter anzuziehen. "Es geht nach dem Motto: Wer nicht mit uns ist, der ist ganz absolut gegen uns." Kritiker würden als Verräter des gesamten russischen Volkes gebrandmarkt. Gleichzeitig nutzte die russische Führung die Krise und die "anti-westliche Hysterie", um restriktive Gesetzte zu verabschieden: So seien in den vergangenen Wochen allein zwei Gesetzentwürfe eingebracht worden, die das Versammlungsrecht und die Pressefreiheit beschneiden. "Die Behörden gehen sehr schnell vor." Sie sei äußerst besorgt, betont Lokshina.
Auch Ilya Ponomarev ist überzeugt, dass die Staatsspitze immer autoritärer wird. Vier seiner Assistenten hätten in den vergangenen Monaten politisches Asyl in Europa beantragen müssen, um einer Verfolgung zu entgehen. "In Russland sind Einschüchterungen an der politischen Tagesordnung." Ob er irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen treffe, um sich schützen? "Nein, ich nehme weiterhin die U-Bahn und gehe zu Fuß durch Moskau." Er habe auch keine Personenschützer, die ihn begleiteten. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: "Außer schöne Frauen." Dann lacht er laut. "Wirklich, im Moment ist es nicht so schlimm", sagt er und hört auf zu lachen.