Warum Brasilianer korrupte Politiker wählen
29. September 2014Wie bringt man einen Brasilianer zum ungläubigen Staunen? Man erwähnt, dass in Deutschland einflussreiche Minister für Täuschungsversuche bei der eigenen Doktorarbeit zurücktreten mussten. Das Staunen wird zu einem müden Lächeln, wenn sie an ihr eigenes Land denken, wo sie mit Skandalen einer ganz anderen Dimension konfrontiert werden. Und die beteiligten Politiker trotzdem einfach weitermachen.
In Rio de Janeiro zum Beispiel ist der Politiker Anthony Garotinho in den Umfragen ganz oben. Der Ex-Gouverneur wurde 2010 wegen Korruption und Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Er soll einer der Köpfe der sogenannten "Milizen" gewesen sein, einer Bande aus ehemaligen Polizisten, die in vielen Teilen Rios Schutzgelder erpressen und eine Paralleljustiz aufziehen.
Doch der Ex-Gouverneur blieb nicht lange hinter Gittern. Seine Gefängnisstrafe wurde umgewandelt in gemeinnützige Arbeit und jetzt ist er wieder im Rennen. Gegen seinesgleichen. Nur ein einziger Politiker im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro - sozusagen ein Außenseiterkandidat - soll noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein.
Rio de Janeiro bildet in Brasilien keine unrühmliche Ausnahme. In São Paulo schickt sich derweil der ehemalige Gouverneur Paulo Maluf an, als Abgeordneter in das brasilianische Parlament einzuziehen. Der 83-jährige Politiker ist bei seinen Landsleuten wegen seines markanten Spruchs "Corrupto, mas faz", zu deutsch "korrupt, aber zupackend" bekannt.
Das von seinem Namen Maluf abgeleitete Verb "Malufen" ist mittlerweile in den brasilianischen Sprachgebrauch eingegangen - es bedeutet so viel wie "vom Staat klauen". Der Ex-Gouverneur soll über die Jahre mehrere 100 Millionen Euro veruntreut haben, zahlreiche Verfahren hat der 83-Jährige überstanden. Interpol sucht ihn bis heute mit einem internationalen Haftbefehl.
Stimmenkauf auf brasilianisch
Diese schillernden Beispiele reihen sich ein in eine lange Liste von aktiven Politikern, die bei der Justiz aktenkundig sind - und zahlreiche dieser Fälle sind allgemein bekannt. Doch insbesondere für Außenstehende drängt sich die Frage auf: Wieso wählen die Brasilianer diese Politiker weiterhin?
Für den brasilianischen Korruptionsforscher Marcos Bezzerra von der Universität Nitéroi im Bundesstaat Rio de Janeiro liegt die Ursache im Verhältnis der Brasilianer zu ihren Politikern. "Lokale Politiker und Abgeordnete sehen ihre Funktion darin, möglichst viel Geld aus der Hauptstadt zu ihren Wählern zu schleusen", meint er. Im administrativen Dschungel des riesigen Landes, das aus 26 Bundesstaaten besteht, sei dies eine Herausforderung.
Das Geld fließt in Bauprojekte oder Sozialprogramme, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. "Die Wähler verstehen diese 'Gaben' nicht als ein mit Steuergeldern finanziertes öffentliches Gut, sondern als einen persönlichen Gefallen des Politikers", sagt Bezzerra. Sie stünden deshalb in seiner Schuld, die sie mit ihrer Stimme abgelten würden.
Der indirekte Stimmenkauf ist besonders dort verbreitet, wo die Bevölkerung auf Zuwendungen aller Art angewiesen ist, also in den Armenvierteln der Großstädte. Korruptionsforscher Bezzerra beklagt, dass es ausgerechnet dort an politischer Aufklärung mangele.
Geschäft mit der Armut
Im Wahlkampf erweist sich das Thema Korruption immer wieder als ein Topthema. So inszenieren sich Politiker seit 20 Jahren in ihren Kampagnen mit Besen und der Ankündigung von Strafen gerne als Saubermänner. Der Mensalão-Skandal um monatliche Schmiergeldzahlungen an Abgeordnete der regierenden Arbeiterpartei PT kocht in jedem Wahlkampf wieder hoch.
Dazu passen die aktuellen Vorwürfe rund um die mutmaßlichen Zahlungen des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras an Regierungspolitiker, mit denen die Gegner von Präsidentin Dilma Rousseff nun genüsslich in den Medien spielen.
So wird der Kampf gegen Korruption zur nationalen Obsession. Im Juni 2013 machte auch die Bevölkerung ihrem Unmut Luft und ging auf die Straße. Die Massenproteste führten unter anderem dazu, dass die Gesetzgebung vom brasilianischen Parlament verschärft und Korruption als Kapitalverbrechen eingestuft wurde.
"Gouverneur des Volkes"
Schon seit 2010 soll das Antikorruptionsgesetz "Ficha Limpa" ("Saubere Akte") bereits verurteilten Politikern die Kandidatur für ein politisches Amt unmöglich machen. Und damit auch die Immunität vor der Strafverfolgung nehmen, die ein Platz im Parlament oder ein Ministerposten mit sich bringen.
Nach den ersten Jahren als zahnloser Tiger kann das Gesetz erste Erfolge aufweisen. Mehrere Gouverneurskandidaten mussten sich zurückziehen. Auch die politische Karriere von Paulo Maluf könnte nun nach Jahrzehnten vorbei sein. Das Verfahren gegen seine Kandidatur ist in der letzten Instanz, seine Anwälte sind nochmals in Berufung gegangen.
In Rio de Janeiro hingegen sind alle Versuche, die Kandidatur von Ex-Gouverneur Anthony Garotinho zu stoppen, gescheitert. Und so werben seine Anhänger an den Ufern der malerischen Bucht von Guanabará weiter für den verurteilten Politiker.
Für Geílson Oliveira, einen 50-jährigen Immobilienmakler, sind alle Punkte des Urteils "gelogen". Man müsse die fragen, die Garotinho kennen, dann würde man erfahren, dass er "ein Guter" sei, ein "Gouverneur des Volkes".
Sein Kollege Isaac, in der Hand eine Fahne mit einem überdimensionierten Konterfei des Politikers, winkt sofort ab. Es seien doch sowieso alle brasilianischen Politiker korrupt und kriminell. Und Garotinho? Er lacht. "Er ist nicht im Gefängnis. Also ist doch alles gut, oder?"