Kommentar: Vorbild Tunesien
27. Oktober 2014Fast vier Jahre nach Ausbruch des sogenannten "Arabischen Frühlings" bietet die Region ein erschütterndes Bild: Große Teile Syriens und Iraks werden vom Terror des "Islamischen Staates" (IS) überzogen. Der Diktator von Damaskus, Bashar Al-Assad, lässt unverdrossen Teile der Bevölkerung bombardieren. Libyen und Jemen versinken im Chaos rivalisierender Milizen.
In Ägypten hat sich das Militär die Macht von den Muslimbrüdern zurückerobert und beschneidet massiv die Freiheiten der Bürger. Vielerorts werden zudem bewusst Spannungen zwischen unterschiedlichen Ethnien und Konfessionen geschürt und für die politische Macht-Absicherung instrumentalisiert. Eigentlich ist alles nur noch schlimmer geworden - und fast wäre man geneigt, den "Arabischen Frühling" komplett für gescheitert zu erklären. Wenn es da nicht das Beispiel Tunesien gäbe.
Lichtblick in der Region
Der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel ist voll zuzustimmen, wenn sie das kleine Maghreb-Land als "Lichtblick" unter den arabischen Umbruch-Staaten hervorhebt. Tunesien war Ausgangspunkt der arabischen Revolutionswelle - und es ist heute das einzige Land in der gesamten Region, das sich weiterhin klar erkennbar auf dem Weg in Richtung Demokatie und Rechtsstaat befindet. Es bleibt dabei bisher bemerkenswert stabil - und es verzeichnet sogar Fortschritte, wie der friedliche Verlauf und die starke Beteiligung der Bürger an den Parlamentswahlen gezeigt haben, trotz Angst vor Terroranschlägen. Man kann die Tunesier dazu nur beglückwünschen!
Dabei leidet auch Tunesien unter hoher Arbeitslosigkeit und fehlenden Wirtschaftsperspektiven, und das Land hat auch Probleme mit alten Regime-Kadern und Islamisten unterschiedlicher Coleur bis hin zu Terroristen. Aber bislang hat es die politische Klasse verstanden, die zahlreichen Konflikte im Lande weitgehend friedlich und im Bemühen um größtmöglichen Konsens anzugehen. Anders als in Ägypten, wo die Muslimbrüder alleine herrschen wollten und schließlich brutal von der Macht gestürzt wurden, haben gemäßigte Islamisten und säkulare Kräfte in Tunesien bisher gemeinsam und auf vorbildliche Art dafür gesorgt, dass politische Machtkämpfe das Land nicht auseinanderreißen oder in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen.
Faire Wahlverlierer
Die ersten Hochrechnungen und Reaktionen auf die Wahlen lassen darauf hoffen, dass dieser besonnene Weg fortgeführt wird. Gewinner ist demnach der Block "Nidaa Tounes", in dem Vertreter des ehemaligen Regimes mit anderen säkulären Kräften politisch zusammenarbeiten. Die islamistische "Ennahda"-Partei als ideologischer Gegenpol wurde diesmal nur zweitstärkste Kraft. Allerdings hat der tunesische Ableger der Muslimbruderschaft seine Wahlniederlage umgehend eingestanden und auch bereits den Wahlsiegern gratuliert. Auch hier zeigt sich ein Maß an politischer Vernunft und Kultur, das man in anderen Ländern der Region derzeit vergeblich sucht.
Für die Zukunft sind nun verschiedene Szenarien denkbar, auch die Präsidentenwahlen im nächsten Monat könnten die politische Gewichte noch verschieben. Klar ist nur soviel: Der Wahlsieger "Nidaa Tounes" ist zur Koalitionsbildung gezwungen - entweder mit den gemäßigten Islamisten der "Ennahda" oder aber mit anderen, kleineren säkularen Parteien. Die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen sind gewaltig. Für Tunesiens Zukunft wird es aber mindestens von genauso hoher Bedeutung sein, dass die unterlegenen Islamisten weiterhin verantwortlich in den politischen Prozess eingebunden bleiben und sich nicht von innen heraus radikalisieren. Das ist der Kern des "tunesisches Experiments". Europa sollte das Land dabei mit allen Kräften unterstützen.