Natürlich war nicht zu erwarten, dass Volkswagen auf der ersten Pressekonferenz gut drei Monate nach Bekanntwerden des Diesel-Skandals alle Fragen würde beantworten können. Es war seit jenen Septembertagen ja auch erst scheibchenweise klar geworden, welche Lawine da auf Europas größten Autobauer zukommt. Elf Millionen Diesel-Autos weltweit, in denen eine Schummel-Software eingebaut ist, die auf Prüfständen den Stickoxid-Ausstoß reduziert: Das ist ein Betrug in einer wirklich bedrohlichen Dimension. So etwas kann im schlimmsten Fall das Ende für den Autobauer bedeuten. Daher gibt es für Volkwagen nur einen einzigen Ausweg aus der größten Krise seit Bestehen des Konzerns: Rückhaltlose Aufklärung, Demut vor der Kundschaft und das absolut eindeutige Versprechen, so etwas nie, nie wieder zu tun.
Ein erster Schritt
Insofern hat die neue Führung von Volkswagen nun in Wolfsburg einen ersten Schritt getan. Der seit einigen Wochen amtierende Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch verspricht eine Aufklärung "ohne Tabus", der neue Vorstandschef Matthias Müller sieht die Krise als Katalysator für den Wandel, den VW dringend brauche. Interne wie externe Berater geben sich in Wolfsburg die Klinke in die Hand, kämpfen sich durch gigantische Datenmengen. Den betroffenen Kunden wird größtmögliche Unterstützung zugesagt und natürlich ein Leihwagen, während in der Werkstatt eine neue Software aufgespielt wird oder neue Teile eingebaut werden. Aber reicht das wirklich, um verspieltes Vertrauen zurück zu gewinnen? Muss das nächste Auto wirklich ein Volkswagen sein? Oder ein Audi, ein Porsche, ein Skoda, ein Seat?
Denn da fangen die Probleme an. Der heutige VW-Konzern-Chef Matthias Müller war bis Herbst Chef von Porsche. Auch dort wurde getrickst. Audi-Chef Rupert Stadler hatte Manipulationen bis vor kurzem ausgeschlossen und erst später zugegeben, dass auch in seinen Premium-Autos Schummelsoftware an Bord war. Hans Dieter Pötsch, heute Chefaufseher, war lange Jahre Finanzvorstand des VW-Konzern, auf das Engste verbandelt mit Martin Winterkorn, VW-Chef bis zum Herbst. Keiner soll etwas gewusst haben von den Machenschaften der Ingenieure? Schlimm ist es so oder so: Es gewusst zu haben und jetzt zu lügen oder es als Chef nicht gewusst zu haben. Oder war wirklich nur eine überschaubare Zahl von Mitarbeitern involviert, wie Pötsch vor der Presse nicht müde wurde zu betonen?
Wo ist die Vision?
Wenn es wirklich so war, wie die Führungsspitze den eigenen Laden heute beschrieben hat, nämlich mit Defiziten in den Prozessabläufen, mit Mängeln im Berichts- und Kontrollsystem, mit nicht klar konkretisierten Zuständigkeiten: Herrgott, möchte man fragen: Was war da eigentlich los? War die Führung nicht mehr Herr der Lage, völlig verbohrt in der Vision, die Nummer Eins der Welt zu werden? Hatten Winterkorn und Co keinen Überblick mehr über ihr riesiges Reich? Welche Kultur muss geherrscht haben bei Volkswagen, wenn der neue Chef heute sagen muss, man brauche keine Ja-Sager, sondern Neugierige, Pioniere, Unangepasste? Man brauche eine offene Diskussionskultur, eine engere Zusammenarbeit und dürfe auch mal einen Fehler machen, solange man sie als Chance zum Lernen begreift?
Natürlich kann man in einem so großen Konzern nicht mal eben die komplette Führungsspitze austauschen. Aber ein paar neue Gesichter dürfen es schon sein. Eine neue Vorstandsfrau für Compliance, geholt vom Konkurrenten Daimler, dabei darf es nicht bleiben. Und den Kulturwandel, den haben auch schon andere ausgerufen, ohne das etwas passiert wäre. Für Volkswagen kann jetzt die Devise nur heißen, wirklich alles auf den Tisch zu legen (wie heute versprochen) und in die Zukunft durchzustarten. Die neue dezentrale Konzernstruktur könnte in die richtige Richtung weisen. Aber weder Aufsichtsratschef Pötsch noch Vorstandschef Müller haben sich getraut zu sagen, dass VW in Zukunft der führende Anbieter von Autos mit alternativen Antrieben sein will. Wäre das nicht eine Vision für VW, den bezahlbaren Volks-Tesla zu bauen? Das Potential, so hieß es heute mehrfach, habe man. Es kann für Volkswagen nicht nur ums Überleben nach dem Abgasskandal gehen. Es muss um eine Vision für die nächsten 50 Jahre gehen. Die Chance für den Wandel - könnte sie nicht genau hierin liegen?