Ein Scheitern war der Reise schon im Vorhinein vorausgesagt: dieser Kapitalismuskritiker aus dem Süden, dieser Umweltapostel! Nichts von dem prägte die gut fünf Tage von Papst Franziskus in den USA. Die einschließlich des vorangestellten Besuchs auf Kuba bislang längste Auslandsreise des amerikanischen Papstes wurde zu einem Höhepunkt der nun zehn Reisen.
Das Kirchenoberhaupt eroberte die Herzen vieler Menschen geradezu im Sturm. "The People's Pope", "Rockstar", "der die Stadt umarmt"... Die Reihe der volksnahen Ehrentitel ließe sich fortsetzen. Längst nicht nur die kleinen Leute aus den ärmlichen Vorstädten waren angerührt. Auch Republikaner, die von päpstlichen Mahnworten zum Umweltschutz nichts wissen wollen, und einige der höchsten Richter des Supreme Courts applaudierten ihm. Denn Franziskus trug deutliche Appelle, auch drastische Urteile vor - doch im Ton blieb er stets verbindend und verbindlich.
Große Reden
Drei große Reden ragen heraus aus dem päpstlichen Programm. Reden, die Franziskus, wie er gleich zu Beginn betonte, als Amerikaner in Amerika hielt, als Kind von Einwanderern in einem von Einwanderern geprägten Land. Mit einer großen, stolzen Tradition. Er mahnte den politisch so gespaltenen Kongress zur Abkehr von der Konfrontation und zur Ausrichtung am Gemeinwohl, Offenheit für Migranten, Kampf gegen Armut, Mahnung zum Maßhalten im Kampf gegen den Terror. Ein striktes päpstliches Nein zur Todesstrafe, ausführlicher begründet als die Absage an Abtreibungen. Mal klatschten Demokraten, mal Republikaner. Doch häufiger erhob sich die gesamte Versammlung von beiden Häusern des Kongresses zu Ovationen.
Ähnliches Bild vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen: Den starken Appellen des Papstes zu einer Neuordnung der UN-Strukturen und einer gerechteren Einbeziehung ärmerer Staaten darf kein Business as usual folgen. Und auch wenn sich Stunden später viele Weltpolitiker auf die Schulter klopften für den neuen globalen Entwicklungsplan bis 2030 - Franziskus will keinen weiteren Plan, sondern Handeln. Auch beim Schutz der Umwelt, der Ende November in Paris zur Debatte steht. Wer die Unwelt schädige, schädige den Menschen.
Zur dritten Rede von herausragend bleibendem Rang avancierten die Gedanken zur Religionsfreiheit. In Philadelphia, dem Gründungsort der USA, oft gefeiert als Ort der Freiheit. Religionsfreiheit, heute vielfach von Tyrannen bedroht, gehöre zur "kulturellen Identität" des Menschen.
Trotzdem: Reden bleiben Reden und gute Worte. Beklatscht, kommentiert, nächster Redner. Jeder dieser papiernen Beiträge folgte zeichenhaftes päpstliches Handeln. In Washington ein Abstecher in eine Suppenküche für Arme und Obdachlose, in New York ein Besuch in einer Armenschule in Harlem, in Philadelphia ein Hubschrauberflug in den größten Knast der Stadt.
The medium is the message
Diese Stunden und Momente wurden zum wahren Kern dieser Reise. Sie rührten die Menschen im Lande an, wie sie stets den Papst anrührten. Wie da Kinder dem Gast eine Szene der Bibel erklären, wie er den Basketball eines Burschen aufnimmt, wie im Gefängnis harte Jungs aufstehen, den Papst umarmen und drücken und halten. Und sich segnen lassen.
"The medium is the message" - gut 50 Jahre alt ist das geflügelte Wort von Marshall McLuhan zur Medienwirkung, und Franziskus, als Medium der Barmherzigkeit und Nähe, verleiht ihm neue Anschaulichkeit. Er komme als Pastor, als Hirte, erläuterte er im Knast. Er hätte es kaum sagen müssen. Bei allen drei Besuchsterminen stieg zuvor ein sichtlich angespannter, ja auch erschöpfter Papst in den Transport ein und ein strahlender, scheinbar um 20 Jahre jüngerer Franziskus kam vor Ort an. Da wurde aus Papst Franziskus einfach Franziskus. Er lachte, hörte ernst zu, herzte. segnete und ließ sich drücken. Zum Teil kaum beschreibbare Szenen.
Ob auf der Straße, an der abendlichen Bar, ob gestandene Reporter in Nachrichten-Kanälen: Immer wieder unaufgefordert die Aussage, man sei selbst nicht katholisch, vielleicht nicht einmal gläubig, aber bewundere Franziskus, als Missionar und Pilger, wegen seiner radikalen Nähe zu den Menschen. Und immer wieder die Hoffnung, dass er dieses Land, ihr Land verändern möge - was man schon dann versteht, wenn man im reichen Washington abends allüberall die meist schwarzen Obdachlosen auftauchen sieht.
Ein Punkt scheint für diese Ausstrahlung noch wesentlich: Franziskus spricht eine andere Sprache. Er kann sie alle, diese traditionsreichen Texte und marianischen Hymnen, die seine Vorgänger verkörperten und stolze Bischöfe regelrecht ausatmen. Aber er gebraucht sie nicht. Wenn er dann von der Kirche oder von Maria - spätestens da schaltete man im Religionsunterricht gemeinhin ab -, von der Einsamkeit des Josef oder dem Flüchtlingskind Jesus spricht, lauscht das Schulkind in Harlem und die Bürofrau im Regierungsviertel so, als hörten sie dies zum ersten Mal. Da spricht der Priester aus Buenos Aires, der im Fiat die Welt aufrollen will.
Gott weint
Die neue Sprache gilt auch für das Thema sexueller Missbrauch von Kindern durch Kirchenleute. Vorgänger Benedikt traf öfter Opfer als Franziskus, er litt an ihren Schilderungen und brachte die Aufarbeitung voran. Und nun in Philadelphia, diesem Bistum mit so viel Skandal (und Millionen Dollar Entschädigung)? "Gott weint", sagt Franziskus, alles müsse aufgearbeitet werden. Und dann sagt er "Überlebende", wenn er von den Opfern spricht. Das ist der Terminus, mit dem viele der einst geschändeten Kinder, die oft ein Leben lang Opfer bleiben, von sich selbst sprechen. Weil andere sich umbrachten. Und "Überlebende" - das ist ein Wort, das da kaum mal ein Bischof verwendet. Franziskus bräuchte es vor 300 (oft konservativen) Bischöfen aus aller Welt. Er geht da längst seinen eigenen Weg.
Eine Schwäche dieser Reise? Da muss man schon zurückgehen in die knapp vier Tage auf Kuba. Franziskus genießt bei der Spitze der diktatorisch geführten Insel wie bei den Menschen wegen seines entscheidenden Beitrages zu einem Neuanfang zwischen den Erzfeinden USA und Kuba höchstes Ansehen. Bei seinen Auftritten ermutigte er zum Traum einer besseren Zukunft. Aber dass schlussendlich keine direkte Begegnung mit Dissidenten zustande kam, dass der Papst Ermutigungen für Andersdenkende nur anklingen ließ…
Die Opposition auf Kuba ist unübersichtlich und unterschiedlich, es gibt gewiss auch Einflüsse und Interessen ausländischer Dienste wie der CIA. Aber - um ein konkretes Beispiel zu nennen: Das oft hervorragend informell arbeitende Protokoll der Papstreisen beabsichtigte es nicht oder ihm gelang es einfach nicht, ein Treffen mit einigen der "Frauen in Weiß" zu arrangieren. Sie kommen häufig aus der Kirche und demonstrieren auf der Straße wie einst die Mütter der "Plaza del Mayo" in Argentinien. Viele der US-amerikanischen Beobachter in Havanna vermissten eine solche Begegnung mit Kritikern der Castro-Kaste. Und nur der regelrechte Sturm der Washingtoner Euphorie über den großen Mann im kleinen Fiat ließ das Thema rasch verschwinden.
"Shepherd one", ein Flieger der American Airlines, bringt Franziskus zurück nach Rom, in einen kirchenpolitisch aufgeheizten Vatikan. Am Sonntag beginnt dort eine entscheidende Bischofssynode zu Familie, zu Kirche und Sexualität. (Vorläufiger) Höhepunkt einer vom Papst selbst Ende 2013 angestoßenen Positionsbestimmung. In Philadelphia, wo es dieser Tage um das Thema Familie ging, konnte man päpstliche Worte zur Synode nur indirekt heraushören. Aber auch in den USA machte der Papst Barmherzigkeit, "mercy" zu seinem Schlüsselwort und trat mit so spürbarer Wärme für Menschen am Rande und auf krummen Wegen ein. Einem solchen Papst, der unterwegs erneut seine konservative Identität betonte, wird die bloße Wiederholung der klaren katholischen Kante nicht reichen. Da ist er radikal. Radikal konservativ und radikal menschennah.
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