Der Andrang von Medienvertretern, gerade aus den USA, ist enorm. Viele vergleichen die Aufmerksamkeit und Spannung mit den Tagen eines Konklave, einer Papstwahl. Denn in dieser Woche geht es im Vatikan um sehr, sehr viel: die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch Kirchenleute, die von Papst Franziskus wieder und wieder beschworene Parole "Null Toleranz", die Haltung der Kirche zur Sexualität der Kleriker, der Missbrauch der geistlichen Macht durch die Hierarchie. Das rüttelt an die Grundfesten der Kirche.
In Deutschland zeigt sich das in steigenden Zahlen an Kirchenaustritten. In vielen anderen Ländern, in denen die Kirchenzugehörigkeit nicht staatlich erfasst wird wie in Deutschland, ist es nicht besser. Da mag als Indiz das schwindende Vertrauen in die Institution Kirche gelten. Mitunter wirken die Zahlen wie ein Bankrott.
Ohne Vertrauen kein Glaube
Kirche will dem Heil der Menschen dienen. Da sind Vertrauen und Glaube die wichtigsten Faktoren. Und ohne Vertrauen - kein Glaube. Da mögen einzelne - die deutschen Kardinäle Müller und Cordes sind da nur zwei Beispiele - wie mit Scheuklappen drüber hinwegreden. Aber ihre Worte wirken wie Sprechblasen aus einer längst geschlossenen Gnaden-Verwaltungsanstalt.
Seitdem Franziskus im September die Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen weltweit und Ordensoberen zu dieser Krisensitzung (nichts anderes ist es) nach Rom einlud und ihnen Gespräche mit Opfern des Missbrauchs verordnete, kamen immer neue Zahlen. Sie zeigen: Auch beim Thema Missbrauch ist die Kirche Weltkirche. Aus Polen und Mexiko, aus Belgien, aus vielen US-Bistümern - um Beispiele zu nennen - wurden neue Untersuchungsergebnisse gemeldet. Andere Regionen, gerade aus Afrika und Asien, werden Fälle ohne mediale Veröffentlichung an den Vatikan liefern. Hunderte Fälle, gewiss tausende neu bekannt werdende Opfer. Vermutlich zehntausende Straftaten. Widerlich, eigentlich unvorstellbar!
Und es tangiert längst auch den Vatikan selbst. Fälle der letzten 14 Tage: Ein langjähriger Mitarbeiter der Glaubenskongregation, ein österreichischer Geistlicher, legt, von einer Ordensfrau mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert, seinen Job nieder; Papst Franziskus entlässt einen der wichtigsten US-Kardinäle der vergangenen Jahrzehnte, Erzbischof Theodore McCarrick, aus dem Priesteramt; in Frankreich ermittelt die Justiz nach dem Vorwurf einer sexuellen Belästigung gegen den Botschafter des Papstes, einen Erzbischof; und eine US-Diözese spricht von glaubhaften Missbrauchsvorwürfen gegen einen der wichtigsten Richter, einen Priester, am höchsten Kirchengericht, der Rota Romana. Jeder Fall für sich erschreckend.
Anlass, den Opfern zu danken
Das Treffen in Rom bietet Anlass, den Opfern zu danken, die nicht nachgelassen haben in ihrem Drängen nach Respekt und Anerkennung, nach Gerechtigkeit, auch nach Entschädigung. In der englischen Sprache bezeichnen sie sich selbst oft als "Überlebende", was zeigen soll, dass viele andere am Leid zerbrochen sind, zugrunde gingen. Viele Opfer sind in dieser Woche in Rom, an diesem Dienstag treten Ordensfrauen, die Gewalt durch Kleriker bis hin zur Vergewaltigung durch den Bischof erlitten, vor die Presse. Am Mittwoch Opfer aus verschiedenen Ländern und Kontinenten, die als Kinder sexuell missbraucht wurden. Von den Akteuren der Kirche, der Anstalt des Heils. Bis Samstag halten sie Mahnwache, dann gibt es einen Demonstrationszug durch Rom.
Die Opfer haben durch ihr Auftreten immer und immer wieder die Kirche bewegt. Persönlich habe ich höchsten Respekt vor jedem Opfer, das die Kraft und den Mut hat, die erlittene Gewalt zu bezeugen. Gewalt, mit der - gerade in Afrika - zumeist die Vernichtung der Würde in der Gesellschaft einher geht. Und es wäre zu hoffen, dass die Delegierten der Beratungen mit dem Papst es schaffen, alle Opfer, nicht nur auserwählte Einzelne, am Samstag zum Bußgottesdienst in der "Sala Regia" hinzuzubitten.
Stunde Null der katholischen Kirche
Es sind dunkle Tage in Rom nach sehr vielen dunklen Jahren. Es sind Tage der Wahrheit, der traurigen Wahrheit. Und die Beratungen der Kirchenvertreter aus aller Welt können nur ein Anstoß und ein neuer Anfang sein, dem noch viele weitere ernst gemeinte Schritte folgen müssen. Das Ende patriarchaler Macht von Priestern im Alltag. Die Abkehr vom moralischen Diktat hin zur gemeinsamen Suche nach dem richtigen Weg. Das Nachdenken über das bisherige Priesterbild. Ein weites Feld, dessen Begrenzungen jetzt kaum genau zu umreißen sind.
Als Mann "vom Ende der Welt" hat Papst Franziskus die Kirche seit dem März 2013 aufgemischt. Sein Engagement für die Schöpfung, seine Hinwendung zu Flüchtlingen und Menschen am Rande nahmen die Kirche in die Verantwortung. Aber auch dieses bislang so andere, so einzigartige, so widersprüchliche Pontifikat könnte scheitern an einer versteinerten Kirche und ihrem klerikal-männlichen Apparat. Diese Tage von Rom, sie sind auch eine Stunde Null der katholischen Kirche. Aber sie ist kein Anlass für allzu großem Optimismus.