Das war überfällig. Endlich haben auch die katholischen Orden in Deutschland Zahlen zu sexueller Gewalt und Missbrauch in Ordenseinrichtungen vorgelegt. Demnach gibt es mindestens 1412 Opfer - Minderjährige oder Schutzbefohlene und 712 Beschuldigte. Das sind Fälle oder Schicksale, die zu jenen Zahlen hinzugerechnet werden müssen, welche die deutschen Bischöfe im Herbst 2018 nach einer wissenschaftlichen Erhebung für die Jahre 1946 bis 2014 vorlegten.
Und klar ist: Die nun veröffentlichten Zahlen sind im Grunde nur ein Zwischenergebnis. Ein Ausschnitt. Denn nicht alle bestehenden Gemeinschaften beteiligten sich an der Umfrage. Und die Deutsche Ordensobernkonferenz (DOK) hat nach eigenem Bekunden nicht die Mittel, eine umfassende Studie mit strukturierter Akteneinsicht auf den Weg zu bringen.
Orden sind eigenständig
Der jetzige Schritt der Orden offenbart wieder ein wenig von den vielen Geheimnissen in der katholischen Kirche, in der zwar alles mit allem zusammenhängt, aber vieles auch sehr unabhängig sein soll oder will. Selbst ein sehr aufklärungswilliger Bischof kann einer Ordensniederlassung auf dem Territorium seines Bistums nichts vorschreiben.
Und Orden agieren häufig grenzüberschreitend. So reiste einer der ehemaligen Schüler des Berliner Canisius-Kollegs, die vor gut zehn Jahren den Mut hatten, dort vorstellig zu werden und auf Aufklärung und Aufarbeitung zu drängen, später auf den Spuren zweier Haupttäter dieser Jesuitenschule nach Chile. Und er begegnete dort nicht nur einem der beiden ehemaligen Canisius-Lehrer, sondern auch weiteren Opfern. Und in der Zentrale der Schönstatt-Bewegung im deutschen Vallendar lebte über Jahre ein früherer chilenischer Bischof, der wegen sehr konkreter Vorwürfe aus seinem Land geflohen war.
Dabei sind die Orden in Deutschland den vergangenen Jahren nicht untätig geblieben. Einzelne Gemeinschaften bemühen sich seit langem um Aufarbeitung, andere wurden dazu durch den Druck der Betroffenen gedrängt. Mehr als 230 Ordensgemeinschaften haben Ansprechpartner benannt, an die man sich bei mutmaßlichen Fällen von sexuellem Missbrauch wenden kann.
Überaltert oder längst aufgelöst
Mit dem nun erfolgten Schritt hat die Ordensobernkonferenz einen weiteren Prozess angestoßen. Aber was tun mit Gemeinschaften, die in den vergangenen Jahren aufgelöst worden sind? Oder deren Mitglieder - Stichworte sind Überalterung und Nachwuchsmangel - lediglich noch in Altersheimen oder an gemeinsamen Alters-Domizilen zu finden sind? Abgründe? Bei manchem Beispiel schien es in den vergangenen Jahren schwer genug, für Bestand an Gebäuden oder auch deren Abwicklung zu sorgen. Nun kommt Verantwortung für finanzielle Leistungen an Opfer von Missbrauch hinzu.
Damit steht die Deutsche Bischofskonferenz in der Pflicht. Trotz aller kirchenrechtlichen Trennung zwischen Orden und Bistümern, auf die im Zweifelsfall gerade auch römische Stellen schauen werden. Doch nichts ist unmöglich in diesem System.
Für die Opfer darf es keine Unterschiede geben
Es gilt, Opfer gleichzubehandeln. Beim Missbrauch durch Geistliche darf nicht unterschieden werden, ob der Täter ein Diözesanpriester oder ein Ordensangehöriger war. Die Kirche sollte mit Druck oder Ermutigung des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung zeitnah zu Entschädigungs-Regelungen und zu strukturierter Aufarbeitung kommen. Und ja: Zahlungen können schmerzhaft sein.
Sage jetzt niemand: die böse katholische Kirche in Deutschland! Die Aufdeckung der kirchlichen Missbrauchfälle im Lande der Reformation war nicht der Beginn einer weltweiten Reihe, sondern nur eines von vielen Elementen. Und doch argwöhnten manche Kritiker über "die Deutschen". Aber auch Länder in Europa wie Polen und Italien, Länder in Lateinamerika wie Peru und Chile, Länder in Asien wie Indien mussten in den vergangenen zehn Jahren Missbrauch in der Kirche registrieren. Um so wichtiger ist es, dass die Kirche in Deutschland nun auch beim Thema "Missbrauch durch Ordensangehörige" für Aufarbeitung, Entschädigung und eine klare Linie steht.