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Politik

Lieberman und das neue Kalkül im Nahostkonflikt

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
14. November 2018

Der israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman hat aus Protest gegen die Waffenruhe mit der Hamas seinen Rücktritt erklärt. Dabei dient der Verzicht auf Gewalt einem weitsichtigem Kalkül, meint Kersten Knipp.

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Israelischer Luftangriff auf den Gazastreifen
Israelischer Luftangriff auf den Gazastreifen am vergangenen MontagBild: Reuters/S. Salem

Stärke, das heißt, in der gegebenen Situation nicht zu verhandeln. Stärke heißt vielmehr, den militärischen Kampf weiterzuführen, bis der Feind einsieht, dass er chancenlos ist und darum aufgibt. Diese Vorstellung von Stärke bestimmte über Jahre die Strategie des israelischen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman. Nun, im jüngsten Gaza-Konflikt konnte er sich damit nicht durchsetzen und ist darum zurückgetreten. Die am Dienstag dieser Woche getroffene Friedensvereinbarung, erklärte er, sei eine "Kapitulation vor dem Terror". Er meinte damit unzweideutig die Hamas.

Lieberman hat Recht: Israel ist auf militärische Stärke zwingend angewiesen. Ohne sie würde der jüdische Staat längst nicht mehr existieren. Und gerade in Zeiten, in denen die vom Iran hochgerüstete libanesische Hisbollah in Syrien direkt an der Grenze zu Israel steht, kann das Land auf militärische Stärke weniger verzichten denn je. Einem Angriff kann Israel nur zuvorkommen, wenn es glaubhaft mindestens auf ein Gleichgewicht des Schreckens verweisen kann. Selbst bei konventionellen Waffen ist das nach wie vor gegeben, auch wenn die Hisbollah massiv nachrüstet.

Netanjahus Kalkül

Die Frage ist allerdings, wohin ein Gleichgewicht des Schreckens langfristig politisch führt. Diese Überlegung hat Premierminister Benjamin Netanjahu offenbar dazu veranlasst, sich nach der Eskalation rund um den Gazastreifen während der vergangenen Tage nun auf einen Waffenstillstand einzulassen. Kurzfristig dürfte er dabei die israelischen Parlamentswahlen im kommenden Jahr im Blick haben. Erspart er dem Land einen weiteren Gaza-Krieg, dann werden, so sein Kalkül, die Wähler diese Leistung honorieren.

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DW-Autor Kersten Knipp

Außenpolitisch kommt ihm Ruhe rund um Gaza ebenfalls entgegen, denn sie erspart ihm weiteren Druck seitens seiner Partner. Zugleich ist diese Ruhe hilfreich bei seinen Bemühungen, bessere Beziehungen zu arabischen Staaten zu knüpfen, wie Netanjahu es derzeit am arabischen Golf mit einigem Erfolg versucht.

Für die Palästinenser im Gazastreifen hieße das indessen, sie würden weiterhin machtlos an Israels ausgestrecktem Arm baumeln. Denn mit der Strategie, bewaffnete Auseinandersetzungen möglichst mit geringem Waffeneinsatz zu führen, nimmt Netanjahu nicht allein westlicher Kritik den Wind aus den Segeln. Sie trägt außerdem dazu bei, dass sich auch die Hamas und ihre Anhänger wieder einige Fragen stellen lassen müssen. Etwa die, ob sie ernsthaft glauben, die absolute Übermacht Israels mit Raketen und selbstgebastelten Brandbomben untergraben zu können.

Natürlich leiden die Palästinenser im Gazastreifen an der Abriegelung ihres Gebietes. Israel geht mit harter Hand vor, so etwa im Oktober, als die Regierung in Jerusalem nach bewaffneten Auseinandersetzungen an der Grenze entschied, die Fischfangzone rund um Gaza zu verkleinern.

Mäßigung dank globaler Aufmerksamkeit

Allerdings haben alle bisherigen Erfahrungen gezeigt, dass diese Dominanz durch Gewalt keinerlei Kurswechsel der Hamas bewirkt. Die Hamas regiert den Gazastreifen seit 2007. Man kann diese Zeit als verlorene Jahre bezeichnen: verloren für vertrauensbildende Maßnahmen, die das Leben der Palästinenser deutlich hätten verbessern können. Dazu ist die Hamas allerdings konsequent nicht bereit. Verantwortliches Regierungshandeln sieht anders aus. 

Netanjahu mag bei sich bei seiner Entscheidung, sich auf einen Waffenstillstand mit der Hamas einzulassen, von raffiniertem Kalkül leiten lassen. Aber er fällt diese Entscheidung auch im Bewusstsein, dass ein globales Publikum das Verhalten der Akteure am Gazastreifen sorgsam beobachtet und vielfach nicht zögert, Partei zu ergreifen.

Dass der Blick des globalen Publikums militärische Zurückhaltung nahelegt, hat Netanjahu offenbar besser verstanden als Verteidigungsminister Lieberman - und besser wohl auch als die Führungsriege der Hamas. Netanjahus Entscheidung deutet an, dass der Blick der globalen Öffentlichkeit offenbar mäßigend auf den Konflikt wirkt. Das könnte möglich machen, dass an die Stelle des militärischen Schlagabtauschs langfristig der Wettstreit politischer und diplomatischer Intelligenz tritt.

Der Nahostkonflikt hat bereits zahllose Hoffnungen enttäuscht. Unbeeindruckt wachsen aber immer neue Hoffnungen nach. Dass globale Aufmerksamkeit militärische Mäßigung bewirkt, wäre die jüngste dieser Hoffnungen.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika