Kein überzeugendes Urteil
16. Mai 2015Es war das schwerste Attentat in den USA seit den Terroranschlägen von 9/11. Es traumatisierte eine ganze Stadt, und mit ihr stand das gesamte Land unter Schock. Tief brannten sich die grausamen Bilder von Boston in das kollektive Gedächtnis der Amerikaner ein. Drei Menschen wurden getötet, viele der 264 Verletzten verloren Arme und Beine und dauerhaft ihre Gesundheit. Ist das Todesurteil deswegen die einzig mögliche Art der Bestrafung gewesen?
Ich meine ganz klar: Nein!
Doch die Wucht des Verbrechens und der öffentliche Druck ließen der Staatsanwaltschaft offenbar keine andere Wahl und der Verteidigung keinen Spielraum, durch einen Deal doch noch die härteste aller Strafen abzuwenden.
Und so ist das Urteil ist ein hart erfochtener Sieg der Staatsanwaltschaft. Und es ist eine herbe Niederlage für Verteidigerin Judith Clarke, die vergeblich Jugend und Beeinflußbarkeit von Zarnajew (im Artikelbild in einer Gerichtszeichnung) als strafmildernd geltend machen wollte.
Keine Bedenken mehr?
Die Anklage konnte die zwölf Mitglieder der Jury überzeugen, dass Dschochar Zarnajew ein kaltblütiger Mörder ist, der ein hinterhältiges und brutales Verbrechen geplant und begangen hat. In Videos führte sie den Mitgliedern der Jury die ganze Ungeheuerlichkeit des Anschlages in grausamsten Details vor. Und machte klar, dass der Anschlag politisch motiviert und ein Akt des Terrorismus sei.
Keiner der zwölf Juroren hatte danach noch Bedenken.
Doch betrachtet man Prozess und Urteil mit Abstand und kühlem Kopf, drängen sich ganz erhebliche Zweifel auf. Noch gut ist in Erinnerung, wie schwer es dem Gericht fiel, Bostoner Bürger für die Jury zu rekrutieren. Fast jeder einzelne Bewohner der Stadt ist persönlich von den Anschlägen betroffen, sei es direkt oder über Freunde und Familie. Kaum vorstellbar, dass die schließlich verpflichteten Juroren unvoreingenommen waren. Hinzu kommt, dass nur diejenigen als Juror verpflichtet wurden, die grundsätzlich keine Probleme mit der Todesstrafe haben und bereit sind, sie auch zu verhängen. Dieses Auswahlkriterium ist zwar gesetzlich vorgeschrieben, wirft aber ein ungutes Licht auf das amerikanische Justizsystem.
Der Geburtsfehler des Verfahrens
Es war von Beginn an ein Fehler, den Prozess in Boston zu belassen. Wenn eine ganze Stadt erschüttert wird durch ein Attentat dieser Tragweite, läßt sich an diesem Ort schlecht unbeeinflußt und unvoreingenommen Gerechtigkeit finden. Als im Jahre 1995 die Täter des blutigen Bombenanschlags von Oklahoma vor Gericht gestellt wurden, verlegte man den Prozess nach Denver.
Die neue Justizministerin Loretta Lynch beeilte sich, das Urteil als passende Bestrafung für ein horrendes Verbrechen zu loben. Aber auch sie wird nicht verhindern können, dass Gerichtsverfahren und Urteil ein Beigeschmack anhaftet.
Wirklich frei in der Entscheidung?
Damit kein Mißverständnis aufkommt: Zarnajews Tat war verabscheuungswürdig und muß entsprechend hart bestraft werden. Die Frage ist nur, ob Juroren und Richter wirklich frei in ihrer Entscheidung waren und die Todesstrafe demzufolge überzeugend gefällt wurde. Ich bleibe bei meinen Zweifeln.
Und die Verteidigung wird ihre Berufung mit großer Sicherheit auf genau diese Argumente stützen. Justizministerin Lynch hat die Hoffnung geäußert, dass die Opfer und ihre Familien nun mit dem Geschehenen abschließen können. Das dürfte nur ein frommer Wunsch sein. Die Berufungsverhandlung könnte sich über viele Jahre hinziehen. Und solange werden die Bilder von Boston die Opfer und ihre Familien weiter quälen. Und Dschochar Zarnajew wird ein Teil dieser Geschichte bleiben.