Indien unter Zugzwang
4. Juni 2014Ein wesentlicher Bestandteil jeder Demokratie ist ihre Fähigkeit, die Rechte des Einzelnen zu garantieren und ihre Bürger zu beschützen. Frauenrechte sind Menschenrechte, und sie werden gerade in gigantischem Ausmaß in einem Land verletzt, das ehrgeizige Ambitionen auf dem internationalen Parkett hat und stolz darauf ist, die größte Demokratie der Welt zu sein.
Am 2. Juni fand die Polizei im nördlichen indischen Bundesstaat Uttar Pradesh den Körper einer 22-jährigen Frau, die erst von einer Gruppe vergewaltigt und dann erwürgt worden war. Die Täter hatten sie gezwungen, Säure zu trinken und sie ihr dann ins Gesicht gespritzt. Das Opfer wurde nur 45 Kilometer entfernt von dem Ort gefunden, an dem letzte Woche der grausame Mord an zwei jugendlichen Mädchen der niederen Dalit-Kaste begangen worden war.
Die beiden Mädchen waren vergewaltigt und dann erhängt worden. Die Männer, die die Polizei anschließend festhnahm, gehören zur höheren Yadav-Kaste. Auch zwei Polizisten wurden wegen angeblicher Mittäterschaft an dem Verbrechen verhaftet und aus dem Polizeidienst entlassen. Der Minister des Bundesstaates, Akhilesh Yadav, überging die Fragen von Journalisten, die wissen wollten, warum die Polizei diese brutalen Angriffe nicht verhindert habe. Doch es waren nur wenige Berichterstatter, die es für nötig hielten, ihn dafür zu kritisieren, von Rücktrittsforderungen ganz zu schweigen.
Patriarchale Strukturen
Gewalt gegen Frauen ist im Fokus der indischen Medien, seit am 16. Dezember 2012 eine junge Studentin aus Neu Delhi von einer Gruppe Männer brutal vergewaltigt und ermordet wurde. Nach diesem Mord gingen in ganz Indien Tausende auf die Straßen. Sie verlangten einen besseren Schutz von Frauen vor Gewalt und einen grundsätzlichen Wandel der Einstellungen gegenüber Frauen in Indiens patriarchalischen Gesellschaft. Die damalige, von der Kongress-Partei geführte, Regierung reagierte mit der Einführung der Todesstrafe für Vergewaltigung mit Todesfolge. Die Anklage von möglichen Vergewaltigern wurde durch die Einführung von Schnellgerichten beschleunigt und neue Polizeieinheiten zum Schutz von Frauen eingerichtet.
Alle diese Morde der letzten Zeit machen das enorme Ausmaß des Problems deutlich, dem sich das Land gegenübersieht. Die Regierung kann einen rechtlichen Rahmen schaffen und Gerichte können anklagen und verurteilen, doch das reicht bei weitem nicht aus. Vergewaltigung ist in Indien ein tief verwurzeltes, kulturelles Problem, manche würden sogar sagen, eine Krankheit. Die indische Gesellschaft ist durch und durch patriarchalisch geprägt. Ehemänner und männliche Familienmitglieder bestimmen immer noch das Leben der meisten indischen Frauen, trotz aller Fortschritte im Bildungsbereich. Frauen sind in Indien Männern untergeordnet und haben sich zu unterwerfen. Familientraditionen, Religion und Mythologie in einer erzkonservativen Gesellschaft verstärken diese Rolle. Auch viele Bollywood-Filme halten diese stereotypen Geschlechterrollen aufrecht.
Umdenken in der Gesellschaft
Maneka Gandhi, die Ministerin für Frauenrechte in der neuen, von der BJP-geführten Regierung, hat auf die Morde mit der Einrichtung einer Krisengruppe für Vergewaltigungen reagiert, die derartige Verbrechen im ganzen Land untersuchen soll. Das ist ein wichtiger erster Schritt, doch was nun folgen muss, ist der Aufbau eines institutionellen Rahmens zur Bekämpfung des Problems - zum Beispiel durch die Schaffung von Gemeinderäten, die sich für die Stärkung von Frauenrechten einsetzen.
Angesichts der weit verbreiteten Gewalt gegen Frauen in der indischen Gesellschaft hat die Regierung keine andere Wahl, als das Problem an der Wurzel anzupacken. Sie muss ihre Bürger überzeugen, dass Indien seinen Platz als modernes Land des 21. Jahrhunderts nur sichern kann, wenn die Sicherheit von Frauen und der Respekt für ihren Beitrag zur Gesellschaft ganz oben auf der Prioritätenliste stehen.