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Politik

Gerechtigkeit für die Jesiden

9. April 2019

Vor dem Münchner Oberlandesgericht geht es nicht allein um den Mord an einem fünfjährigen Mädchen, das versklavt wurde. Es geht vor allem um den Völkermord des IS an den Jesiden, meint Matthias von Hein.

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Deutschland Prozess Jennifer W.
Jennifer W. (Mitte) und ihre beiden Verteidiger im Gerichtssaal in MünchenBild: DW/M. von Hein

Der erste Prozesstag dauerte nur eine knappe halbe Stunde. Gerade lang genug, um die Anklageschrift gegen die deutsche IS-Rückkehrerin Jennifer W. zu verlesen. Dann wurde die Verhandlung bereits wieder unterbrochen. Und doch war es ein wichtiger Tag für die Gerechtigkeit - vor allem für das geschundene und verfolgte Volk der Jesiden. Denn unabhängig davon, was man der vermeintlichen Dschihadistin W. am Ende wird nachweisen können: Weltweit wird hier zum ersten Mal Anklage wegen Straftaten gegen das Völkerstrafrecht erhoben, die Mitglieder des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) gegen Jesiden begangen haben.

Der religiös verbrämte Faschismus des IS hat sich nirgendwo deutlicher gezeigt, als im Umgang mit dieser als "Teufelsanbeter" diffamierten Volksgruppe aus dem Nordirak: Als Anhänger der aus ihrer Sicht einzig gültigen Auslegung des Islam fühlten sich die IS-Dschihadisten legitimiert, die Jesiden als "Untermenschen" zu deklarieren. Diese durften deswegen entweder sofort ermordet (zumeist die Männer) oder (vor allem die Frauen und Kinder) versklavt, verkauft oder misshandelt werden - vielfach ebenfalls bis zum Tod. So wie Fünfjährige, die Jennifer W.´s Ehemann als Sklavin gekauft und später bei sengender Sonne zur Strafe angekettet haben soll, bis das Mädchen elend verdurstet ist.

Warten auf Gerechtigkeit

Obwohl der Überfall des IS auf die Jesiden, der Genozid im Sindschar-Gebirge im Nordirak, schon knapp fünf Jahre her ist, warten sie bis heute auf Gerechtigkeit, auf Aufarbeitung. Zur Erinnerung: Im Sommer 2014 wurden 5000 jesidische Männer und Jungen getötet, 7000 Frauen und Kinder verschleppt und versklavt. 3000 von ihnen werden noch immer vermisst. Hunderttausende wurden zur Flucht gezwungen. Jetzt, da der sogenannte "Islamische Staat" in seiner territorialen Form zerschlagen ist, wird die Ahndung dieses Völkermords immer dringender.

DW Kommentarbild Matthias von Hein
DW-Redakteur Matthias von Hein

Nach dem Fall der letzten IS-Bastion sitzen Tausende Dschihadisten mit ihren Familien in kurdischen Lagern fest. Beweismittel müssen gesichert werden. Auch in Zusammenarbeit mit der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien. Selbst wenn dies die türkische Regierung verärgern sollte, weil die in den Kurdenmilizen ihrerseits offiziell "Terroristen" sieht. Denn wenn früher oder später deutsche IS-Mitglieder heimkehren, sollten hier gut begründete Haftbefehle vorliegen. Wenn erforderlich, auch gegen die extremistischen Frauen, oftmals verharmlosend "IS-Bräute" genannt. 

Der Fall Jennifer W. und viele weitere Berichte zeigen: Täter waren bei den Steinzeitislamisten nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Zugleich zeigt der Fall die Absurdität des salafistisch-dschihadistischen Geschlechterverständnisses von absolutem Gehorsam der Frau gegenüber dem Mann: Nach allem was man weiß, bat die heute 28-jährige Angeklagte ihren Mann zwar, dem Kind Wasser geben zu dürfen. Als der aber nein sagte, beließ sie es dabei - laut Anklage wissend, dass das Mädchen so auf jeden Fall sterben werde.

Traumatisierte Zeuginnen

Eine wichtige Rolle bei der Dokumentation der Völkerrechtsverbrechen des IS spielen die über 1000 traumatisierten Jesidinnen, die dem IS entkommen konnten und Zuflucht in Baden-Württemberg fanden. Auch die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad gehört zu diesem Kreis. Trotz aller Schwierigkeiten, über das Erlebte zu sprechen: Über 200 dieser Jesidinnen haben gegenüber deutschen Strafverfolgern Aussagen über ihr Martyrium gemacht. So viele wie nirgendwo sonst, weltweit. Auch jetzt ist es die Aussage einer Betroffenen, die möglicherweise eine Wende im Prozess gegen Jennifer W. bringt, kaum dass er begonnen hat: Eine Hilfsorganisation der Jesiden hat die Mutter des getöteten Mädchens ausfindig gemacht. Und diese hat in den vergangenen Tagen umfangreich ausgesagt. Es ist die Fülle dieses neuen Beweismaterials, weswegen der Prozess unterbrochen werden musste.

Die für die Befragung der Jesidinnen zuständige Abteilung beim Bundeskriminalamt sollte für ihre Arbeit besser ausgestattet werden. Damit es bald mehr Prozesse wie den gegen Jennifer W. geben kann und Gerichte rechtsstaatlich korrekt mit IS-Anhängern umgehen können - und zwar denen beiderlei Geschlechts.

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein