Die Mauer ist weg - wirklich?
5. Februar 2018Ich bin mit ihr groß geworden. Sie war nur wenige hundert Meter von meinem Spielplatz entfernt: die Mauer. Als Jugendlicher, wir waren inzwischen umgezogen, blickte ich aus dem Küchenfenster nach drüben: in den Osten Berlins. Ich war zwar eingemauert, fühlte mich aber trotzdem frei. Und das war keine Einbildung, denn ich konnte ja jederzeit überall hinfahren. Sogar in die DDR, wo meine Landsleute wohnten, die nicht zu uns durften. Es sei denn, sie waren Rentner.
Als das fast 160 Kilometer lange scheußliche Ding am 13. August 1961 gebaut wurde, gab es mich noch nicht. Ich kam gut ein Jahr später zur Welt. Die Mauer war also älter, aber ich habe sie überlebt. Inzwischen gibt es mich fast doppelt so lange wie den "antifaschistischen Schutzwall". So nannten die DDR-Machthaber ihr menschenfeindliches, tödliches Bauwerk, das von mutigen Menschen im Osten zum Einsturz gebracht wurde. Nach elend langen 28 Jahren, zwei Monaten und 27 Tagen. Und exakt so lange ist die Mauer an diesem 5. Februar Geschichte.
Ich habe Verständnis für das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein
Sie existiert also nicht mehr, abgesehen von ein paar geretteten Überresten. Und die sind auch nötig, um der Nachwelt wenigstens eine Ahnung davon zu vermitteln, welche Folgen Mauern für Menschen haben können. Und diese Folgen wirken oft lange nach. Das Trennende der Vergangenheit wird gegenwärtig, wenn ich mich mit ehemaligen DDR-Bürgern über ihr Leben im vereinten Deutschland unterhalte. Wenn sie beispielsweise über geringere Renten klagen - meistens zu Recht. Dass die auch gut 28 Jahre nach dem Mauerfall immer noch nicht vollständig angeglichen sind, ist beschämend.
Mich wundert es überhaupt nicht, dass sich sehr viele Ostdeutsche nach wie vor als Bürger zweiter Klasse fühlen. Ich habe nie verstanden, dass die meisten DDR-Eliten durch Leute aus dem Westen ersetzt wurden. Bei politisch-ideologisch besonders belasteten Funktionsträgern leuchtete mir das natürlich ein. Aber der Kahlschlag in Betrieben, an Universitäten, in Wissenschaft und Kultur ging für meinen Geschmack weit über das zwingend notwendige Maß hinaus. Ostdeutsche als Führungskräfte sind auch noch 2018 in allen gesellschaftlichen Bereichen weit unterdurchschnittlich vertreten.
Dass ich von Merkel regiert werde, ist kein Trost
Soll ich es als Trost empfinden, dass meine Bundeskanzlerin seit 13 Jahren die in der DDR sozialisierte, aber in Hamburg geborene Angela Merkel ist? Das klingt spöttischer, als ich es meine. Im Gegenteil: Wir wären mit der inneren Wiedervereinigung nach meiner festen Überzeugung schon viel weiter, wenn es mehr Menschen vom Schlage Merkels in hohen und höchsten Funktionen gäbe. Auch deshalb habe ich es sehr bedauert, dass Joachim Gauck 2017 nicht für eine zweite Amtszeit als deutsches Staatsoberhaupt kandidierte.
Auf einem anderen Feld der Politik hat mein Verständnis schon lange aufgehört: bei der bewussten Ausgrenzung der Linken. Noch immer weigern sich die regierenden Konservativen (CDU/CSU) im Bundestag gemeinsame Anträge mit der Linken zu stellen.
Die integrierende Rolle der Linken wird zu wenig gewürdigt
Dass es auch in den Reihen der Regierungschefin Wertschätzung für Linke gibt, durfte ich vor Kurzem bei einem Empfang für Gregor Gysi anlässlich seines 70. Geburtstags erleben. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) würdigte die im deutschen Einigungsprozess integrierende Rolle des im Osten Berlins geborenen und in einem kommunistischen Haushalt aufgewachsenen Jubilars. Schäubles Wertschätzung für den wegen seiner angeblichen Stasi-Kontakte oft angefeindeten Gysi war ehrlich und kam von Herzen. Da hat jemand das Wort "Christlich" im CDU-Parteinamen mit Leben erfüllt. Das wünsche ich mir häufiger und vor allem öffentlich!
Für mich steht fest: Wer bis in die Gegenwart hinein ein politisches Lager wegen seiner historischen Wurzeln pauschal ablehnt, dem fehlt es an demokratischer Reife. So werden mentale Mauern in einem Land zementiert, in dem vor 28 Jahren, zwei Monaten und 27 Tagen die Mauer aus Beton gefallen ist. Ihre inzwischen ebenso lange währende Nicht-Existenz wäre ein origineller Zeitpunkt, auch die letzten Mauern in den Köpfen abzureißen. Wie es geht, machen uns die Jungen vor: Ost und West sind für die allermeisten von ihnen allein geografische Orientierungen.
Zum Glück ticken die Jüngeren anders
Neulich feierte ich in meiner Familie die erste deutsch-deutsche Hochzeit, wie man früher gesagt hätte. Beide sind wenige Jahre vor dem Mauerfall geboren worden. Er stammt aus Baden-Württemberg, sie aus Sachsen. Heute leben sie in Leipzig, der Heldenstadt. Deren Bürger hatten 1989 mit ihren legendären Montagsdemonstrationen maßgeblichen Anteil an der friedlichen Revolution in der DDR.
Geschichten wie diese sind in der Generation meiner jungen Verwandtschaft, wozu auch meine eigenen Kinder gehören, zum Glück normal. Viele Ältere könnten sich an ihnen ein Beispiel nehmen, auch wenn es ihnen aus mitunter verständlichen Gründen schwerfällt. Und den in der Politik Verantwortlichen wünsche ich, dass auch die letzten kalten Krieger endlich die Zeichen der Zeit erkennen und ihrer Verantwortung gerecht werden. Dann können auch die letzten Mauern fallen.
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