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Die gespaltene Gesellschaft

Steiner Felix Kommentarbild App
Felix Steiner
19. Oktober 2015

Er handle für uns und unsere Kinder, rief der Attentäter, der Henriette Reker mit einem Messer attackierte. Die Flüchtlingskrise fordert Deutschland inzwischen auch in einer unerwarteten Weise, meint Felix Steiner.

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Köln Messerattacke auf OB-Spitzenkandidatin Henriette Reker
Ein Wahlkampfstand auf einem Kölner Wochenmarkt - Ort des Anschlags auf Henriette Reker am SamstagBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

"Wir ahnen, dass der Zug der Flüchtenden unser Land verändern wird", sagte der Bundespräsident vor nicht einmal vier Wochen. Wie schnell und in welche Richtung sich Deutschland verändert, ist erschreckend. Erschreckend, aber nicht wirklich überraschend. Denn die brutale Messer-Attacke vom Samstag auf Henriette Reker, die Kandidatin für das Amt der Oberbürgermeisterin von Köln, ist nur ein vorläufiger Höhepunkt der sich immer stärker radikalisierenden Stimmungen in der Gesellschaft.

Seit Wochen schon feiert in den Nutzerforen der großen Nachrichtenportale sowie bei Facebook der Hass fröhliche Urständ. Es werden Verschwörungstheorien ausgebreitet, Gerüchte als Tatsachen verkauft, es wird polemisiert und auf das heftigste beleidigt. Im Fokus steht vor allem die Bundeskanzlerin: "Volksverräterin" und "Flüchtlingshure" sind nur zwei der Titel, mit denen sie regelmäßig bedacht wird. Längst nicht mehr nur in der Anonymität des Internets, nein, auch bei öffentlichen Veranstaltungen.

Galgen und Brandsätze

Vor einer Woche dann der Galgen beim Pegida-Aufmarsch in Dresden mit zwei symbolischen Stricken: einer für Kanzlerin Angela Merkel und einer für ihren Vize Sigmar Gabriel. Fast jeden Tag lesen wir Nachrichten über Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte - ein Wunder fast, dass noch niemand ums Leben kam. Und nun der beinahe tödliche Angriff auf die wahlkämpfende Kölner Sozialdezernentin, in deren bisheriges Aufgabenfeld eben auch die Unterbringung der Flüchtlinge fiel.

Mit "Entgleisungen" oder mit legitimem Widerstand "besorgter Bürger" gegen den Kurs der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik hat das alles nichts mehr zu tun. Was hier gerade stattfindet, ist Terrorismus. Nicht organisiert, aber trotzdem flächendeckend im ganzen Land. Kein Bundesland und praktisch keine Region, die bisher von Brandanschlägen verschont geblieben wäre.

Felix Steiner
DW-Redakteur Felix SteinerBild: DW/M.Müller

Und der Angriff auf die kommunale Spitzenpolitikerin fand eben nicht im sächsischen Pegida-Land statt, sondern in der Großstadt Köln, die sich selbst für die liberalste und weltoffenste Metropole Deutschlands hält.

Als wäre all das nicht bereits schon alarmierend genug, geht nun auch nach dem Attentat vom Samstag alles seinen gewohnten Gang: Zu einer spontanen Lichterkette in der Kölner Innenstadt kamen nach Einbruch der Dunkelheit neben der politischen Prominenz all die, die immer kommen, bei solchen Anlässen. Es ist der gleiche Teil der Gesellschaft, der Anfang September Flüchtlinge Beifall klatschend an den Bahnhöfen begrüßt hat, regelmäßig spendet und in den Aufnahmezentren spontan mit anpackt.

Kein Innehalten nach der Bluttat

In den Internetforen dagegen wurde auch nach dem Attentat auf Henriette Reker weiter gepöbelt, als hätte da kein grundlegender Angriff auf die offene, demokratische Gesellschaft stattgefunden: Dass es um sie ja nicht schade sei, es ihr recht geschehe und das alles erst der Anfang sei. Der tiefe (unüberbrückbare?) Graben, der sich inzwischen durch die deutsche Gesellschaft zieht - nie wurde er offensichtlicher.

Am Sonntag wurde Henriette Reker, auf der Intensivstation im künstlichen Koma liegend, zur Oberbürgermeisterin der viertgrößten Stadt Deutschlands gewählt. Nicht aus Mitleid, sondern mit genau dem Stimmenanteil, den ein Wahlforschungsinstitut bereits vor sechs Wochen ermittelt hatte. Es sei wichtig, dass die Wahl trotz des Anschlags stattgefunden habe, ließ Kölns Stadtspitze wissen. Weil man sich von Terroristen und Gewalttätern nichts diktieren lassen dürfe. Richtig.

Die Größe der Herausforderung noch nicht begriffen

Aber ein noch wichtigeres Signal wäre es gewesen, wenn am Sonntag 70 oder 80 Prozent der Kölner an die Urnen gegangen wären. Das wäre ein Mandat gewesen, das die Demokratie und auch die Wahlgewinnerin Reker gestärkt hätte. So aber muss man zur Kenntnis nehmen, dass 60 Prozent der Kölner die öffentlichen Dinge völlig egal sind.

Noch scheint die Masse der Deutschen noch nicht begriffen zu haben, vor welcher Herausforderung die Gesellschaft im Herbst 2015 steht. Nicht nur, weil riesige Menschenmengen unterzubringen und zu integrieren sind, sondern auch weil die Grundwerte unserer Gesellschaft verteidigt werden müssen: Zunächst einmal nicht gegen vermeintlich radikal-islamische Zuwanderer, vor denen alle Angst haben, sondern gegen die Demokratie-, Freiheits- und Rechtsstaatsverächter aus unserer eigenen Mitte.

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