Der britische Weckruf
Die Ehe ist der Versuch, zu zweit mit Problemen fertig zu werden, die man alleine nie gehabt hätte, sagte einmal Woody Allen. So ähnlich ist das auch mit der Europäischen Union. Man beschäftigt sich mit Fragen, mit denen man als einzelner Nationalstaat nicht konfrontiert wäre. Zum Beispiel: Wo soll sich der Sitz der Gemeinschaft befinden? Darüber hatten sich 1951 die Mitgliedstaaten der Montanunion, dem Vorvorgänger der Europäischen Union, drei Tage und drei Nächte gestritten. Die Wahl fiel auf Luxemburg.
Erschöpft sagte Jean Monnet, damaliger Chefarchitekt der europäischen Integration, zu seinem Assistenten: "Jetzt haben wir ein paar Stunden zum Schlafen. Dann brauchen wir ein paar Monate für den nächsten Schritt der Integration. Dann…" Sein schlauer Assistent unterbrach ihn: "Dann stoßen wir auf große Schwierigkeiten. Und die Not zwingt uns zur weiteren Integration. Ist das so?" Monnet lachte: "Genau so. Du hast das Prinzip verstanden, wie Europa funktioniert."
Unauffällige und technokratische Integration
So hat Europa über sechs Jahrzehnte funktioniert. Die Integration hat die politische Elite am Volk vorbei vorangetrieben - ganz bewusst. Das hat der Ober-Europäer Jean-Claude Juncker 1999 in einem seltenen Moment der Ehrlichkeit offen zugegeben. Wörtlich sagte er dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel": "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."
So wurde zu einem guten Teil auch bei der Einführung des Euro verfahren. Welcher Bundestagabgeordnete ahnte 1991 die Tragweite der ersten Beschlüsse zur Währungsunion, denen er damals zustimmte? Auf einmal ist der Zug dann abgefahren. Ein Anhalten ist nicht mehr möglich.
In der Europapolitik heißt das Pfadabhängigkeit. Falsch abgebogen? Kein Problem. Augen zu und durch. Der Fehler wird so weit zementiert, dass ein Zurück zum Ausgangspunkt allen Beteiligten als zu aufwendig erscheint und daher nicht in Erwägung gezogen wird. So wurde die Eurokrise durch die Vergemeinschaftung der Schulden eingedämmt. Je weiter dieser Prozess voranschreitet, desto unwahrscheinlicher die Abkehr.
Alles ohne Alternative
Das Zauberwort der europäischen Integration heißt "alternativlos". Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Dazu gehört logischerweise auch, dass kein Land die Gemeinschaft verlässt, denn das würde die Pfadabhängigkeit durchbrechen.
Davon ließen sich die Briten nicht beeindrucken und stimmten in unmittelbarer Demokratie mehrheitlich für den Ausstieg aus der EU. Damit haben sie demonstriert, dass sie keine Lust haben, eines Tages unbemerkt in den Vereinigten Staaten von Europa aufzuwachen.
Die europäische Integration hat vor über 60 Jahren als ein Versöhnungsprojekt vor allem zwischen Deutschland und Frankreich begonnen. Beide haben auch am meisten davon profitiert. Frankreich nutzte die EU, um trotz der wirtschaftlichen Schwäche mit den Deutschen auf Augenhöhe zu sein, und die Bundesrepublik konnte unter dem Dach der Gemeinschaft erstarken, ohne den Nachbarn Angst zu machen. Die Briten sahen sich am Anfang eher als Mentor und Förderer der europäischen Einigung. Dass sie auch nach ihrem Beitritt die immer tiefere Integration nicht mit derselben Inbrunst forcieren wie die Deutschen, muss man hierzulande akzeptieren. Nach dem Brexit-Votum die beleidigte Leberwurst zu spielen oder die Briten für dumm zu halten, zeugt eher von einer Intoleranz und einem eigenartigen Demokratieverständnis.
In der Krise steckt die Chance
Nein, die Briten haben die EU nicht in eine Krise gestürzt, darin befindet sie sich ohnehin schon seit Jahren. Die EU sollte das britische Votum als einen Weckruf begreifen, um einen Neustart zu wagen. Dabei soll sie die Zuständigkeiten zwischen Europa und den Nationalstaaten neu überdenken und bei den weiteren wichtigen Vorhaben die Menschen einbinden. Den Briten muss keine Härte gezeigt werden. Denn viele Paare haben vorgemacht, dass man auch nach einer Scheidung Freunde bleiben kann.
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