Berlin und Chris Dercon - das war doch eigentlich die perfekte Kombination. Hier die Hauptstadt, die sich gerne als Kreativ-Labor feiert. Dort der gut vernetzte Kulturmanager, der am New Yorker MoMA genauso zu Hause war wie am Pariser Centre Georges Pompidou oder zuletzt erfolgreich als Chef der Tate Modern in London. Und doch wurde Dercons Berufung an die Spitze der Berliner Volksbühne zu einem Debakel. Es ist hinterher immer einfach zu rufen: Das war absehbar! Doch der Fall Dercon liest sich wie eine Folge fataler Irrtümer.
Berlin wollte einen weltweit profilierten Namen. Mit dem Stardirigenten Daniel Barenboim hatte es an der Staatsoper doch auch so wunderbar geklappt.
Falscher Ort Volksbühne
Hier unterlief den Kulturpolitikern der erste Irrtum: Dercon war der richtige Mann für Berlins Kultur, die Volksbühne der falsche Ort für einen wie ihn. Das mit 18 Millionen Euro vom Land Berlin subventionierte Haus hatte schon in der DDR den Status einer Kulturlegende. In den wilden Pionierjahren der Nachwende machte der charismatische Intendant Frank Castorf die Bühne schnell zum Nabel der Kulturszene. Der Regiestil unverwechselbar, die Inszenierungen laut, lang und frech, die Schauspieler angesagt, die politische Botschaft provokant links. Die Volksbühne wurde zum Tempel, in dem sich das Publikum weniger als zahlende Besucher, denn als Teil einer Glaubensgemeinschaft verstand.
Künstlerisch war die Dynamik dieser Jahre längst verpufft, als Kulturpolitiker die Entscheidung für Dercon als Castorf-Nachfolger trafen. Doch die Gemeinschaft war lebendig und machte sich bereit, den Tempel zu verteidigen. Dercon lief direkt ins offene Messer.
Der zweite Irrtum betrifft das unterschätzte Widerstands-Potenzial gegen einen Mann "von außen". Ohne Stallgeruch, ohne erkennbar linke Biographie. Gegen einen, der aus der Kunstwelt und aus London kommt: ein Neoliberaler! Dercons Feinde hatten schnell ihr vernichtendes Urteil gefällt. Berlins strahlende Kulturszene hat dunkle Zonen. Zonen, in denen mit aller Macht um Besitzstände - Subventionen und Fördertöpfe, Posten und Aufmerksamkeit - gekämpft wird; wo Toleranz endet, wenn sie nicht den eigenen Belangen dient; wo das coole Flair der Weltstadt dem provinziellen Mief dumpfer Selbstbezogenheit weicht. Unterstützt von der Fangemeinde und flankiert vom harten Kern einer studentisch geprägten, links-autonomen Kultur-Guerilla, organisierten Castorf und seine Getreuen eine Boykott-Kampagne gegen Dercon, die weder vor Rufmord noch vor Hausbesetzungen haltmachte. Von unwürdigen und inakzeptablen "persönlichen Angriffen und Schmähungen aus Teilen der Stadt" spricht jetzt Dercons Dienstherr. Das ist ausgerechnet jener Kultursenator von der Linkspartei, der ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Rücken gefallen war.
Die destruktive Seite Berlins
Der dritte Irrtum betrifft Chris Dercon selbst. Seine erste Saison sei künstlerisch schwach, heißt es jetzt unter Kennern. Ein scheinheiliges Argument. Es ist eine Grundregel, einem Intendanten ein oder zwei Jahre Zeit zu lassen, seine Handschrift zu entwickeln. Dem Berliner Theatermacher Matthias Lilienthal etwa ist das an den Münchner Kammerspielen nicht gelungen. Sein Vertrag wird nicht verlängert. Abgesägt nach nicht einmal drei Jahren? Das sei doch viel zu wenig Zeit, klagt Lilienthals Truppe.
Chris Dercon wurde nicht einmal ein Jahr zugestanden. Sein Irrtum war nicht das schwache Programm. Es war auch nicht seine fehlende Theatererfahrung. Dercons tragischer Irrtum war seine Fehleinschätzung Berlins. Er hatte die Stadt geliebt. Sie oft besucht, während er erfolgreich seine Museen in München, Rotterdam oder London managte. Endlich etwas im experimentierfreudigen Berlin auf die Beine zu stellen, das war sein Traum. Es hätte ihm gelingen können, wenn die Stadt - Kulturszene, Politiker, Medien - ihm eine Chance gegeben hätte. Hat sie aber nicht. "Ich habe mich noch nie so unfrei gefühlt wie in Berlin", hat Dercon schon vor seinem Amtsantritt ernüchtert eingestanden. Er hat Deutschlands Kulturmetropole von der destruktiven Seite kennengelernt. Auch das ist Berlin.
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