China, der Strippenzieher
An diesem Sonntag sind erneut hunderttausende Menschen in Hongkong auf der Straße. Sie fordern die endgültige Einstellung des gesetzgebenden Verfahrens für das Auslieferungsgesetz und die Absetzung der Verwaltungschefin Carrie Lam. Die wütenden Menschen protestieren nicht nur gegen das Gesetz an sich, sondern gegen die Sinisierung ihrer Stadt. Und für die Wahrung der Hongkong-Identität.
Hongkong ist völlig anders als Festland-China
Das Hongkonger Grundgesetz, das Basic Law, garantiert Bürgerrechte und Freiheiten nach westlichem Vorbild in der ehemaligen britischen Kronkolonie. Eine demokratische Grundordnung westlicher Prägung, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und freie Meinungsäußerung - im festland-chinesischen Vokabular sind das allesamt Fremdwörter.
Chinas Reformpolitiker Deng Xiaoping hatte den Grundsatz für die Wiedervereinigung formuliert: "Ein Land, zwei Systeme". Das sollte heißen: China übernimmt lediglich die Aufgaben der Außenpolitik und Verteidigung, alles andere dürfen die Hongkonger selber regeln. Somit genießt Hongkong Sonderstatus und ist im Grunde genommen komplett anders als das Festland: ein anderes politisches System, eine andere Währung, ein anderer Dialekt, andere Steckdosen und Linksverkehr. Die Menschen dort macht das stolz.
Doch die politische Realität ist längst eine andere und das Auslieferungsgesetz nur der Auslöser der Proteste. Der Unmut der Hongkonger über die ständige Einmischung aus Peking ist groß. Zwar hat der chinesische Botschafter in Großbritannien bestritten, dass die Gesetzesänderung von Peking gewünscht werde. Doch viele Indizien sprechen genau dafür. So wurden die Redezeiten bei den Lesungen im Rat beschränkt, das Verfahren im Eiltempo vorangetrieben. Und welche Regierung kann weghören, wenn jeder siebte Wähler auf die Straße geht und protestiert? Die Verwaltung um Carrie Lam allerdings bleibt weitestgehend stur. Die Ankündigung vom Samstag, das Verfahren zunächst mal auszusetzen, kann die Gemüter trotzdem nicht besänftigen.
Zwar ist es richtig, dass ein geständiger Mörder aus Hongkong, der 2018 in Taiwan seine schwangere Freundin heimtückisch umgebracht hatte, aufgrund der bestehenden Rechtslage nicht ausgeliefert werden darf. Aber nun das generelle Verbot von Auslieferungen an Festland-China, Taiwan und Macau aufzuheben, anstatt eine Einzelfallentscheidung herbeizuführen, ist nicht verhältnismäßig und schießt über das Ziel hinaus.
Strafverfolgung von Regimekritikern
Und wer wünscht denn eine solche Möglichkeit der legalen Überstellung am dringendsten? Erinnern Sie sich noch an den Buchhändler Bo Lee von Causeway Bay Books, der auf dem Festland verbotene Enthüllungssachbücher verkaufte? 2015 verschwand er spurlos in Hongkong, später tauchte er wieder auf dem Festland auf. Nach Pekinger Darstellung war er freiwillig ausgereist. Dabei hatte Lee gar keine Reisedokumente bei sich. Und der Grenzschutz von Hongkong hat keine legale Ausreise seiner Person registriert.
Oder der Multimilliardär und Unternehmer Xiao Jianhua, der nach einem Bericht der "Financial Times" 2017 vor seiner Hongkonger Luxussuite von "fünf oder sechs in Zivil gekleideten Mitarbeitern der chinesischen Staatssicherheit angesprochen und mit zwei seiner Leibwächter aufs Festland gebracht" wurde. Sein Verbleib und die Vorwürfe gegen ihn sind bis heute nicht bekannt.
Die früheren Gesetzgeber von Hongkong haben mit Bedacht festgeschrieben, warum verdächtigte Straftäter bisher nicht an Festland-China ausgeliefert werden dürfen. Weil es eben dort keinen fairen Prozess gibt und die Justiz nicht unabhängig ist. Auch Aktivisten und Regimekritiker im Exil, die China aburteilen möchte, könnten künftig in Hongkong festgenommen werden, selbst wenn sie nur auf dem Flughafen umsteigen. Irgendwann könnte es jeden in Hongkong treffen. Und dann wäre Hongkong wie jede andere Stadt auf dem Festland.
Die Demokratie ist auf der Strecke geblieben
Nach § 5 des Grundgesetzes darf Hongkong 50 Jahre lang seine Freiheiten beibehalten. Aber 22 Jahre nach Hongkongs Rückkehr zu China sieht es ganz anders aus. Die echte Demokratie ist in Hongkong längst auf der Strecke geblieben.
Die Direktwahl sämtlicher Sitze des Legislativrats und des Verwaltungschefs (Chief Executive), die das Grundgesetz ausdrücklich vorsieht, wurde auf die lange Bank geschoben. In beiden Organen hat Peking die Fäden in der Hand. Der Chief Executive wird von einem Komitee gewählt, in dem pro-chinesische Funktionäre die absolute Mehrheit haben. Und im Stadtparlament dürfen derzeit lediglich 35 von 70 Sitzen direkt gewählt werden. In der aktuellen Legislaturperiode hält die demokratische Fraktion nur 26 Sitze. Vor allem die junge Generation in Hongkong ist mit dem Pekinger Gängelband nicht einverstanden. Sie bildet neue Parteien, die die Unabhängigkeit fordern.
Peking hält bisher still und wehrt sich gegen "ausländische Einmischungen in seine innere Angelegenheit". Über die Großdemonstrationen in Hongkong liest man in Festland-China aufgrund der Zensur nichts - rein gar nichts. Der KP-Führung reicht es völlig, wenn das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" auf dem Papier steht. Denn Papier ist geduldig.