Kolumne Berlin 24/7: Berlin, deine Baustellen
13. November 2016Zugegeben: Als Franz Schubert seine Sinfonie "Die Unvollendete" schrieb, da hatte er nicht die langlebigen Berliner Baustellen im Kopf. Mir aber geht die "Unvollendete" nicht mehr aus dem Sinn, seit ich nach Berlin gezogen bin und mit dem Fahrrad durch das gefährliche Baustellen-Labyrinth navigiere.
Das war noch anders, als ich in Washington lebte. Auch hier war es gefährlich auf dem Rad, aber nicht wegen der vielen Baustellen, sondern wegen der vielen Schlaglöcher. Ich erinnere mich noch an einen schmerzhaften Salto Mortale vor der Residenz von Vize-Präsident Joe Biden. Ich hatte einen tiefen Krater im Asphalt übersehen.
Doch auf Berlins Straßen gibt es von beidem reichlich: Schlaglöcher und Baustellen. Auf dem Weg zur Arbeit verwandelt sich in meinem Kopf Schuberts "Unvollendete" zu einem insistierenden Kontrapunkt, begleitet vom allgegenwärtigen Presslufthammer-Tremolo. Der Blutdruck steigt und der Wutpegel auch. Überall Baustellen, die wie Pilze aus dem Boden schießen und dann eine Lebensdauer haben, die den getrockneten Pfifferling in Großmutters Einweckglas neidisch machen würde.
Unfertige Baustelle als neues Wahrzeichen der Hauptstadt
Kein Wunder, dass mir kürzlich ein Taxifahrer genervt sagte, unfertige Baustellen seien das neue Berliner Wahrzeichen. Der BER, der Berliner Großflughafen, ist unbestritten das weithin sichtbarste "Wahrzeichen" in dieser Kategorie. Der Berliner Tagesspiegel zählt seit Jahren, um wie viele Tage die einst für Oktober 2011 projektierte Fertigstellung überschritten ist: Beim Schreiben dieser Kolumne waren es unfassbare 1621. Doch das Schlimmste für die Berliner: Die Witze über den BER drohen auszugehen, bevor er fertig wird.
Ach, wäre es nur beim BER geblieben, aber die ganze Stadt ist übersät mit großen und kleinen BERs. Zu den Großen sind jüngst zwei Prestigebauten hinzugekommen: Zum einen das Pergamonmuseum, bei dem sich am Ende wohl Bauzeit und Baukosten verdoppeln werden. Außerdem soll es auch Probleme beim wiedererbauten Stadtschloss geben, das mit dem Humboldtforum ein Kultur- und Dialogangebot von Weltrang auf die Beine stellen will. Jetzt droht eine Blamage von Weltrang.
Verkehrslähmung statt Verkehrslenkung in Berlin
Unnötig zu erwähnen, dass die Baustellen - gerade auf den Straßen - kaum koordiniert werden. Sie scheinen kunterbunt beliebig aus dem Boden zu wachsen. Die Folgen: Staus und Stopps, Vollbremsung für den Straßenverkehr. Längst hat der Volksmund die für Koordination zuständige "Verkehrslenkung Berlin" in "Verkehrslähmung Berlin" umgetauft.
Und stellt man als Neu-Berliner dieser Behörde die simple Frage nach der aktuellen Anzahl der Baustellen, darf man sich umgehend am "Ohnmachts-Ethos" Berliner Verwaltungen erfreuen: "Sehr geehrter Herr Schließ, ich befürchte, die Zahl aktueller Baustellen in Berlin wird Ihnen niemand nennen können", schreibt mir die zuständige Pressesprecherin. Und fügt dann fröhlich hinzu: "Zumindest wir haben wichtigere Aufgaben als das Führen von Statistiken. Wir wünschen Ihrer Recherche trotzdem viel Erfolg." Das motiviert!
Ich werfe einen Blick ins Zeitungsarchiv. Mehr als 100.000 Baustellen gebe es jedes Jahr, alle 53 Meter eine, schätzte die B.Z. (Berliner Zeitung) schon im Jahre 2013, als es noch beschaulicher zuging. Die aktuelle Zahl wird weit höher liegen, denke ich. Doch trotz aller Maulerei ertragen die Berliner das mit Langmut. Seit Kriegsende lebten sie mit Provisorien, Notlösungen, aufgezwungen nicht zuletzt durch die Mauer. Das Unfertige scheint bis heute Teil ihrer DNA zu sein.
Anarchy in Berlin oder Baustellen-Blues
Ich muss wieder an Schuberts "Unvollendete" denken. Stellen Sie sich vor, er hätte nicht damals in der Pferdekutschen-Idylle Wiens komponiert, sondern heute in Berlin. Seine Musik hätte sicherlich einen aggressiven Beat gehabt. Er wäre wohl bei einer Gruppe wie den Sex Pistols seines Zeitalters gewesen und hätte mit "Anarchy in Berlin" richtig Rabatz gemacht.
Oder einfach nichts, einfach nur das große Schweigen, die gähnende Leere, Generalpause - für die vielen verlassenen Baustellen, auf die sich scheinbar nie ein Bauarbeiter verirrt.
Und am Ende würde der Neu-Berliner Schubert, genauso wie ich jetzt, in tiefe Resignation verfallen: Vorhang auf für den Berliner Baustellen-Blues.