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PolitikEuropa

Schon als wir anfingen, war Krise

1. August 2022

Am 1. August 1962 ging das Russische Programm der DW erstmals auf Sendung. Die UdSSR war der Hauptgegner im Kalten Krieg. Und das Russland von heute? Ein Blick zurück nach vorne von Programmleiter Christian F. Trippe.

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Bildkombo Walter Ulbricht DW-Antenne und Nikita Chruschtschow
Am Tag des Sendestarts des Russischen Programms reiste Walter Ulbricht zu Nikita Chruschtschow nach Moskau

Im Sommer 1962 war Sowjetführer Nikita Chruschtschow außenpolitisch auf Standortsuche. Das Tauwetter in den Beziehungen zum Westen war endgültig vorbei, die Berlin-Krise wirkte nach. Im Herbst des Vorjahres hatten sich amerikanische und sowjetische Panzer am Checkpoint Charlie mitten in Berlin gegenübergestanden, tagelang und gefechtsbereit. Für den Abend des 1. August hatte sich DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht bei Chruschtschow in Moskau angesagt, die beiden wollten ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer einige grundsätzliche Fragen besprechen.

Die Sendepläne der ersten russischsprachigen Sendung der Deutschen Welle sind nicht mehr vorhanden. Ulbrichts Besuch in Moskau dürfte ziemlich sicher gemeldet worden sein. Kurz darauf forderte der Kreml den Abzug der drei westlichen alliierten Mächte aus Berlin. Das hätte eine grobe Verletzung des sogenannten "Vier-Mächte-Abkommens" bedeutet, und der Führung in Moskau wird bewusst gewesen sein, dass Washington, Paris und London dem unter keinen Umständen würden zustimmen können.

Atomwaffen in der geopolitischen Drohkulisse

Spätestens hier drängt sich eine erste Parallele zur Gegenwart auf: War es nicht erneut eine Führung im Kreml, die noch vor wenigen Monaten völlig unannehmbare Forderungen stellte und ebenfalls genau wusste, dass der Adressat - nämlich die Regierung in Washington - diese niemals würde annehmen können? Kurz bevor er den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gab, forderte Wladimir Putin vom Westen eine Generalrevision jener Sicherheitsordnung, die sich nach dem Kalten Krieg in Europa gebildet hatte - was auf eine Abwicklung der NATO hinausgelaufen wäre. Unannehmbar. 

Christian Trippe Leiter Hauptabteilung Osteuropa
Christian F. Trippe leitet die Russische RedaktionBild: DW

Chruschtschow entschied sich im Sommer 1962 weiter zu eskalieren. Seine Diplomaten verhandelten mit den kommunistischen Freunden auf Kuba über ein weitreichendes Militär- und Hilfsabkommen. Auf der Karibik-Insel vor der Haustür der USA sollten sowjetische Atomwaffen stationiert werden. Die USA reagierten mit einer politischen Entschlossenheit, die die Welt an den Rand eines Atomkrieges brachte.

Doch spätestens hier verschwimmen die Parallelitäten zwischen dem Damals und dem Heute. Zwar hat Präsident Putin gleich mit dem Beginn des Ukraine-Krieges den Einsatz von Atomwaffen ins Spiel gebracht, doch diese nukleare Drohung blieb bis auf weiteres so unbestimmt, dass westliche Beobachter darin eine Geste der Einschüchterung zu erkennen glauben. Wirksam zwar in einigen westlichen Öffentlichkeiten, militärisch aber letztlich substanzlos. Die Drohung mit der Atomkeule - vor 60 Jahren war sie anders zu verstehen.

Vorsicht gegenüber allzu naheliegenden Parallelen

Russland ist nicht die Sowjetunion. Auch wenn russische Soldaten auf ihrem blutigen Vormarsch in der Ukraine immer wieder sowjetische Truppenfahnen zeigen. Auch wenn in der russischen Geschichtspolitik der zurückliegenden Jahre das Bild der UdSSR immer stärker manipulativ geschönt wird. Der historische Kalte Krieg ist nicht mit der neuen Ost-West-Konfrontation im digitalen Zeitalter zu vergleichen. Vergleiche hinken immer, für historische Vergleiche gilt das allemal - zumal, wenn sie so tun, als könnten sie belegen, dass alles genau so schon einmal da war.

Buchcover Der Archipel GULAG Alexander Solschenizyn
"Der Archipel GULAG" wurde im Russischen Programm der Deutschen Welle vorgelesen

Im Herbst 1962 begann die russische Literaturzeitschrift "Nowy Mir" mit dem Abdruck des Romans "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" von Alexander Solschenizyn. Wer nach Parallelen sucht und Vergleiche anstellen will, der sollte sich fragen, ob ein solches Stück oppositioneller Literatur es durch die russische Zensur des Jahres 2022 schaffen würde? Doch die derzeitige Zensur weiß auch, dass sie in der digitalen Welt nur begrenzt wirksam sein kann. Informationen finden immer ihren Weg, auch nach Russland, obwohl es missliebige Internet-Seiten zu sperren versucht. Die russische Internet-Zensur dürfte sich einst als genauso wirkungslos erweisen, wie es das Stören der DW-Kurzwellen-Signale durch die Sowjetunion war. Auch damals schon hat die DW Texte von Solschenizyn im Radio verlesen.

Der Zustand der Welt war 1962 so beklagenswert, dass das norwegische Komitee niemandem einen Friedensnobelpreis verleihen wollte - das wurde erst im Jahr darauf nachgeholt. Ich bin gespannt, ob und wem er dieses Jahr zuerkannt wird. Wir werden darüber auf allen unseren russischen Plattformen berichten.