Alles wieder auf Null
3. Oktober 2016Der historische Tag in Kolumbien beginnt mit schlechten Nachrichten: Schwere Schauer sorgen in den nördlichen Küstenregionen für Überschwemmungen und vieler Wähler müssen zu Hause bleiben. Auch in der Hauptstadt Bogota regnet es in Strömen. Trotzdem hat sich Claudia Lopez, eine der populärsten Senatorinnen des Landes von der Partido Verde (Grüne Partei) nicht nehmen lassen, mit dem Fahrrad die wichtigsten Stadtteile abzufahren, um für ein Ja zu werben. Die grüne Regenjacke und die weißen Luftballons am Lenker dürfen im Bild nicht fehlen.
"Heute ist ein historischer Tag für den Frieden", sagt Lopez im Gespräch mit der DW. "Die Kolumbianer haben die große Chance den Krieg an den Wahlurnen zu beenden." Auch Angela Giraldo, eines der FARC-Opfer, deren Bruder von den Rebellen erst entführt und dann ermordet wurde, ist am Morgen noch optimistisch: "Ich habe mit Ja gestimmt, weil ich möchte, das künftige Generationen losgelöst von diesem Konflikt leben können", sagt sie vor ihrem Wahllokal im vornehmen Stadtteil Chico. Es fehlt nur noch die Zustimmung des Volkes zum am vergangenen Montag unterzeichneten Friedensvertrag zwischen der Guerilla und der Regierung.
Kopf-an-Kopf-Rennen
Knappe sieben Stunden später ist das zuversichtliche Strahlen aus den Gesichtern von Lopez und Giraldo verschwunden. Im Fünf-Minuten-Takt eilen die Zwischenstände der staatlichen Wahlbehörde über die Bildschirme der zahlreichen Wahlpartys. Schon die ersten Daten sind eine Überraschung: Im Gegensatz zu allen Umfrageergebnissen ist der Vorsprung des Ja-Lagers gegenüber den Nein-Sagern nur hauchdünn und mit jeder neuen Hochrechnung wird er knapper. Nach 17 Uhr Ortszeit herum haben die Gegner der Friedensvereinbarung erstmals die Nase vorn. Um Ende des Herzschlagfinales siegt das No mit 50,23 Prozent gegenüber den 49,76 des Ja-Lagers. Die Überraschung ist perfekt.
Enttäuschung und Appelle
Claudia Lopez schaltet inzwischen in den Kampfmodus über. In Richtung der Partei des rechtskonservativen Ex-Präsidenten Alvaro Uribe, Centro Democratico (CD), sagt sie: "Von heute an liegt jede Minute, jeder Tote dieses Konfliktes in ihrer Verantwortung." Nach Versöhnung klingt das nicht, auch nicht nach Anerkennung des demokratischen Ergebnisses. FARC-Opfer Angela Giraldo reagiert besonnener: Es könne nur einen Weg geben. Es müssten beide Lager mit nur einem einzigen Ziel zusammengeführt werden: Einem stabilen und dauerhaften Frieden. Uribe selbst schaltet sich erst spät am Abend ein: "Die Demokratie des Vaterlandes hat dem Druck des Ja widerstanden." Zugleich öffnet er zwischen den Zeilen die Möglichkeiten eines Dialogs, wenn es Korrekturen am Vertrag gebe. Für Präsident Santos bedeutet das: Ohne die Zustimmung seines ehemaligen Ziehvaters und heutigen Intimfeindes gibt es kein erfolgreiches Abkommen mehr.
Das spürt offenbar auch CD-Politiker Francisco Santos, als er den Wahlsieg feiert. Francisco Santos, Vizepräsident unter Uribe und familiär mit dem aktuellen Präsidenten eng verbunden, war einer der erbittertsten Gegner seines Cousins. Nun versucht er einen verbalen Brückenschlag im Wissen um die brisante und dramatische Situation. Die Rebellen nennt er aber erstmals seit Monaten nur noch FARC-Guerilla und nicht mehr Nacro-Terroristen wie im gesamten Wahlkampf zuvor. Sie könnten sich darauf verlassen, dass das Uribe-Lager an einer Fortsetzung des Friedensprozesses interessiert ist. "Wir wollen einen neuen Vertrag, einen gerechteren Vertrag, der einen dauerhaften und wirklichen Frieden garantiert", sagt Santos.
FARC verspricht am Frieden festzuhalten
Auch die FARC bemüht sich darum, kein Feuer ins Öl zu gießen. Weit weg im Verhandlungsort Havanna verfolgen sie das Geschehen auf einer Großbildleinwand. Es dauert eine Weile bis sich FARC-Chef Timochenko sich zu Wort meldet: "Die FARC bekräftigen ihren Willen zum Frieden und wiederholen ihre Bereitschaft, nur das Wort als Waffe zum Bau einer neuen Zukunft zu verwenden." Leider hätten die Kräfte, die den Hass gesät haben, die Entscheidung der Kolumbianer beeinflusst, kritisiert Timochenko das Uribe-Lager.
Und dann tritt der große Geschlagene vor das Mikrofon: Präsident Santos versucht zu retten, was zu retten ist. Jetzt geht es nicht mehr um den Friedensvertrag. Jetzt geht es um seine Präsidentschaft. Er wolle die Stabilität des Landes garantieren, verspricht Santos und kündigt an: "Bis zur letzten Minute meiner Amtszeit werde ich den Frieden suchen." Am Montag werde seine Verhandlungsdelegation, die eigentlich die Gespräche im August erfolgreich abgeschlossen hatte, erneut nach Havanna reisen. Einen Fahrplan B habe er nicht, hatte Santos im Vorfeld erklärt. Nun werden die Uhren wieder auf Null gestellt.
Draußen vor dem Casa Narino, dem Amtssitz des Präsidenten, haben sich noch in der hereinbrechenden Dämmerung ein paar junge Kolumbianer versammelt, die die Niederlage nicht wahrhaben wollen. Sie rufen Santos aufmunternde Worte zu. Mehr ist nicht übrig geblieben von dieser dramatischen Nacht in dem die Hälfte eines Landes Nein gesagt hat zu einem historischen Friedensvertrag.