Der Kniefall: Eine Geste, weil Sprache versagt
6. Dezember 2020Was machte Brandts Demutsgeste in Warschau so bedeutsam und als Symbol weltweit lesbar? Das Bild erntete - als Symbol für die Aussöhnung Polens und Deutschlands - international große Anerkennung. Zumal der Kniefall, wie Willy Brandt später betonte, spontan und ungeplant war. "Die Geste wurde ihm von vielen hoch angerechnet", sagt Thomas Birkner, Kommunikationswissenschaftler und Historiker an der Universität Münster, "weil er sie an einem symbolhaften Ort zeigte." Mit ihr, so Birkner im Gespräch mit der Deutschen Welle, habe sich das Bild der Deutschen im Ausland geändert.
Tatsächlich war es Weltpolitik mit einer Geste: Am 7. Dezember 1970 tritt Willy Brandt in der polnischen Hauptstadt an das Mahnmal zum Gedenken an den jüdischen Ghetto-Aufstand von 1943. Es ist der erste Besuch eines deutschen Regierungschefs in Polen seit dem Zweiten Weltkrieg. Brandt hat einen Kranz niedergelegt, zupft noch einmal an der Schleife, tritt zurück, sinkt dann plötzlich auf die Knie. Die Fotoapparate der Reporter klicken. Mit dieser Geste bittet Brandt - stellvertretend für sein Land - um Vergebung für die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg.
Ein Jahr danach erhielt Willy Brandt den Friedensnobelpreis. Auch Kristina Meyer, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Willy-Brandt-Stiftung, glaubt, dass Brandts Geste das Ansehen der Deutschen verbessert habe: "Brandt stand im Grunde für die anderen Deutschen, für die guten Deutschen, und das wurde durch dieses Bild international bestärkt."
Von der Macht der Bilder
Brandts Demutsgeste zählt heute zu den Ikonen der politischen Kommunikation. Warum? Laut Birkner beweist das Fotos die Macht von Bildern: "Brandt hat damals versucht, mit einer Geste auszudrücken, was zumindest zum damaligen Zeitpunkt nicht mit Sprache ausdrückbar war." In seinen 1989 erschienen "Erinnerungen" begründete Brandt das so: "Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt."
Dabei ist Brandt nicht der einzige Politiker, der mit Bildern gesprochen hat. "Andere deutsche Kanzler haben versucht, mit Bildern nicht nur Politik zu veranschaulichen, sondern mit Bildern Politik zu machen", so Birkner. Dazu zählte etwa Konrad Adenauer, der erste Kanzler der neugegründeten Bundesrepublik. Bei einem Empfang auf dem Bonner Petersberg durch die Hochkommissare der Allierten Siegermächte - USA, Großbritannien und Frankreich - sollte die deutsche Delegation eigentlich vor einem Teppich stehen bleiben. Doch Adenauers Schritt auf den Teppich, von Reportern abgelichtet, sollte zeigen: Der deutsche Kanzler steht mit den Alliierten auf Augenhöhe.
Ikone dank geschichtlicher Fallhöhe
"Seit Brandt haben Politikerinnen und Politikern immer wieder versucht, ähnliche Bilder zu schaffen", sagt Birkner und verweist auf Helmut Kohl, der 1984 - Hand in Hand mit Frankreichs Präsident François Mitterand - in Verdun der Gefallenen zweier Weltkriege gedachte. Birkner erinnert auch an Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der 2002 während eines Elbe-Hochwassers durch das überflutete Grimma stapfte. Allerdings war das wohl Symbolpolitik: Schröder setzte sich als beherzter Macher in Szene - und gewann kurz darauf die Bundestagswahl gegen seinen Herausforderer Edmund Stoiber.
Das Kniefall-Bild Brandts sei einzigartig, betont Meyer, obwohl es Vorbildcharakter gehabt habe. "Das Bild ist nicht nur zur Ikone geworden, sondern auch zum zeitlosen Markenzeichen einer deutschen Vergangenheitsbewältigung", so die Zeithistorikerin.
Und wie genau entsteht eine politische Ikone? Zu den wichtigsten Zutaten gehöre - zusätzlich zum Inhalt und einer klaren Botschaft, so Birkner. "Es muss nicht zwangsläufig bis ins Detail geplant und in seiner Wirkung bedacht sein. Aber was es sicherlich braucht, ist eine starke historische Fallhöhe." In 40 bis 50 Jahren werde sich wahrscheinlich niemand mehr an Schröder in Gummistiefeln erinnern. "Aber an den knienden Willy Brandt schon." Bilder von politischer Symbolik könne man leicht auch als Symbolpolitik und damit negativ verstehen, "wenn es inhaltsleer daherkommt", so Birkner.
"Das Kniefall-Foto würde heute kaum denselben Effekt erzeugen wie 1970", vermutet der Kommunikationswissenschaftler. Zu stark habe sich die Mediennutzung verändert. "Es ist ganz wichtig, diese Geste in ihrem historischen Kontext zu verorten. Denn dort gehört sie hin", sagt auch die Historikerin Meyer. Ein ähnliches Ereignis würde sich heute zwar viel schneller verbreiten. "Aber das Bild wäre vermutlich viel schneller wieder aus unserer kollektiven Wahrnehmung verschwunden."