Klassik in der Krise
17. Dezember 2001Von Pop- und Klassikkrise ist die Rede – und gerade die Klassik ist schon länger der kranke Mann des Musikbetriebs: Alles hängt mit allem zusammen. Und die von Unicef in Auftrag gegebene, international vergleichende Pisa-Studie legt den Finger in die Wunde: Deutsche Schüler können nicht nur schlecht rechnen, schreiben und lesen, sie sind auch ausgestiegen aus dem früher mehr oder weniger akzeptierten Kanon an Kultur und Bildung. Keine neue Erkenntnis aber trotz aller bisherigen Reformschwüre der Stand der Dinge. Betroffen ist nicht nur die gegenwärtige Schülergeneration, sondern auch die Altersklasse der 20- und 30jährigen, teilweise bis hinauf zu den 40- und 50jährigen. Die zurückgehenden Umsätze bei Klassik-CD´s , die rückläufigen Publikumszahlen in deutschen Opernhäusern und Konzertsälen, die Existenzprobleme vieler Laienchöre und Instrumentalensembles, sie spiegeln dieses Defizit wieder. Das Klassikpublikum, so könnte die Analyse kurz und brutal heißen, ist nicht nur dezimiert, sondern auch vergreist. Und das, weil in der Breite schlicht die Basis für das Verständnis dieser wesentlichen Kunstformen verlorengegangen ist. Und da sitzen sie wieder auf der Anklagebank, die üblichen Verdächtigen: Die Kultusbürokratie, die den Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen kontinuierlich kürzt, die Kommunen, die den Musikschulen den Geldhahn zudrehen, die Freizeitindustrie, das Fernsehen, das Radio, das Elternhaus und und, und.
Die Phonofirmen haben 2001 erneut mit drastischen Sparmaßnahmen reagiert: Sony schloß seine Hamburger Zentrale, BMG stellte mehrere Hundert Arbeitsplätze zur Disposition und Warner music löste defacto zwei seiner bedeutendsten CD Labels für klassische Musik auf: Die Hamburger Teldec und die französische Erato. Und sammelte die versprengten Reste in der Londoner Zentrale. Eine Entwicklung, die EMI-Classics teilweise schon vorweggenommen hat.
Die Musikpiraterie wird immer wieder angeführt, in ihrer geschäftsschädigenden Wirkung aber überschätzt, insbesondere im Klassik-Bereich. Richtig ist: Die Mayor Companys leiden Not, zählen aber auch zu den Hauptverursachern der Krise: Sie produzieren munter ein Überangebot des Immergleichen, das dann auch noch phantasielos vermarktet wird. So kam es, dass auch Stardirigenten wie James Levine, Daniel Barenboim oder Chirstoph von Dohnanyi plötzlich um ihre Exklusivverträge bangen mußten. Doch das Zittern auf hohem Niveau soll uns hier weniger bekümmern. Wichtiger wäre es , über neue Vermittlungsformen von klassischer Musik nachzudenken. Und was ist überhaupt mit Neuer, mit zeitgenössischer Musik? Schulen, Medien, Konzertveranstalter, Phonoindustrie, sie alle sind hier gefordert. Mit schicken Cross-Over-Produktionen oder grell-bunten Musik-Events ist nichts gewonnen. Das sind Eintagsfliegen mit geringer Halbwertzeit. Und auch die Festivals, bei denen es weiter brummt, wie Bayreuth oder Salzburg, weisen keinen Ausweg, denn sie leben von Sonderbedingungen, die für das Abonnemonskonzert in der Kleinstadt nicht gelten.
Auch der gewohnheitsmäßig neidische Blick auf die erfolgreiche Internetkampagne für Schulen hilft nicht weiter. Die gute Lobbyarbeit, und an der fehlt es für die Musik natürlich auch, ist das eine, der Inhalt, die Botschaft, das andere. Und die hat sich zumindest verbraucht, ist verschlissen. Nicht etwa, weil sich die Werke, etwa Beethovens Sinfonien, überlebt hätten. Aber deshalb, weil der massenhafte kommerzielle Umgang mit Musik, begünstigt durch die mediale Globalisierung, an einer Haupterrungenschaft klassischer Musikkultur rüttelt: Der Einzigartigkeit, oder genauer, der Autonomie des Kunstwerkes. Der allgegenwärtige Konsum von Musik hat die Gipfellandschaft klassischer Musik zu einem Muster in der Klangtapete des Alltags schrumpfen lassen.
Es wird gemeinschaftlicher Anstrengung aller Beteiligten, auch der vielfach gescholtenen Journalisten und Musikpädagogen bedürfen, um diese Verzwergung von Kunst zu bekämpfen und das Bewußtsein neu zu schärfen. Mit einer Augen zu und durch – Haltung ist es nicht mehr getan.