Klassenbild mit Walter Benjamin
26. September 2012Sie sehen für heutige Verhältnisse recht gesetzt aus, diese jungen Herren auf dem Foto. Sie tragen Anzüge, Westen, Krawatten und schauen dabei ziemlich seriös drein. Kein Wunder - auf sie wartet jetzt der Ernst des Lebens. Wir schreiben das Jahr 1912. Die 22 gut gekleideten, sittsam in die Kamera blickenden Burschen sind Abiturienten. Dieses ist das letzte Klassenfoto, das von ihnen gemacht wurde.
Wer aber waren diese Gymnasiasten? Wie hießen sie, was wurde aus ihnen? Momme Brodersen, Germanist und Historiker, hat Antworten gefunden. In seinem lesenswerten Buch erkundet er das Schicksal der 22 , leuchtet ihre Lebenswege aus - und am Ende entfaltet sich das Panorama einer dramatischen Zeit, ein sehr plastisches Bild von der Entstehung und dem Untergang der Weimarer Republik und den Brüchen der deutsch-jüdischen Geschichte.
Ein Abiturient, der prominent wurde
Das Foto, das Brodersen zu seiner Spurensuche veranlasst hat, ist freilich kein x-beliebiges Bild. Denn auf ihm ist - wahrscheinlich in der zweiten Reihe links - ein später sehr prominenter Literaturwissenschafter und Publizist zu sehen: Walter Benjamin. Der 1892 in Berlin geborene Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie war einer von 13 jüdischen Schülern der Klasse - und einer von den neun, die ihr fünfzigstes Lebensjahr nicht erreichen sollten, weil sie später von den Nationalsozialisten ermordet wurden oder in der Vernichtungshölle des Nazireichs verschollen sind.
Die Gymnasiasten stammten durchweg aus gut bürgerlichen Kreisen, an ihrer Kaiser-Friedrich- Schule wurde ordentlich gepaukt, Zucht und patriotische Gesinnung vermittelt und zum Abitur streng geprüft. Kaum zwei Jahre, nachdem das Foto aufgenommen worden war, brach der Erste Weltkrieg aus - fast alle 22 sind mit flammendem Patriotismus dem "Ruf der Fahne" in den "Dienst am Vaterland" gefolgt. Sie zahlten einen hohen Preis: Schwere Verletzungen, Traumatisierung, soziale Entwurzelung - manche starben auch den ("Helden"! -)Tod.
Für die Überlebenden dieser Abiturklasse war es nach diesem Epochenbruch nicht einfach, an ihre Vorkriegsgeschichte anzuknüpfen, eine akademische Ausbildung fortzusetzen oder sich beruflich zu orientieren. Politisch gingen sie jetzt unterschiedliche Wege. Trotz der Kriegserfahrung wurden die jungen Männer keineswegs alle zu aufrechten Demokraten und Verteidigern der Weimarer Verfassung. Auch der brillante Walter Benjamin zählte zunächst eher zu den national und konservativ denkenden Zeitgenossen.
Aus erfolgreichen Bürgern werden Verfolgte
Sehr hellsichtig reagierte Benjamin freilich, als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen. Schon am 16.März 1933 stieg er in den Zug von Berlin nach Paris - als erster von seinen einstigen jüdischen Mitschülern. Auch andere, die auf dem Klassenfoto zu sehen sind, konnten noch flüchten - aber nicht alle. Sie, die damals angesehene Anwälte waren, Ärzte, Wissenschaftler oder Kaufleute, erlebten seit dem Machtantritt Hitlers Demütigungen, bürokratische Schikanen, soziale Ausgrenzung und schließlich den wirtschaftlichen Untergang. Andere ehemalige Abiturienten hatten sich inzwischen vom Nationalisten zum glühenden Nationalsozialisten gewandelt - Lothar Nerger etwa, ein evangelischer Pfarrer, der gerne unter dem Talar die SA-Uniform aufblitzen ließ.
Walter Benjamin verbrachte Jahre voller Entbehrungen im französischen Exil. Nach der deutschen Besetzung von Frankreich wollte er im September 1940 über die französisch-spanische Grenze weiter bis in die USA flüchten. Er wartete vergeblich auf ein Visum, die Auslieferung an die Gestapo drohte. Im Grenzort Port Bou beging der Schriftsteller Selbstmord. Die Kraft zum Weiterleben hatte ihn verlassen.
Eine spannende Rekonstruktion
Momme Brodersen gelingt es, Geschichte(n), die man eigentlich schon aus anderen Quellen kennt, noch einmal neu erfahrbar zu machen, indem er sie individualisiert und dabei die Schicksale auch von jenen bislang namenlosen Mitschülern Walter Benjamins beleuchtet, die uns bis heute unbekannt waren. Entstanden ist ein spannendes Buch, das uns auch ermuntert, die Augen aufzumachen und Fragen zu stellen.
Nach der Lektüre betrachtet man noch einmal das Foto aus dem Jahre 1912. Man forscht in den Gesichtern dieser ernsten jungen Männer. Haben sie etwas von ihrem Schicksal geahnt? Konnten sie überhaupt etwas ahnen? Nein. Sie haben natürlich nicht wissen können, was sie erwartet, ob sie einmal Opfer oder Täter sein würden. Sie waren Abiturienten. Und hatten das Leben noch vor sich.
Informationen zum Buch: Momme Brodersen: "Klassenbild mit Walter Benjamin" Siedler Verlag,
235 Seiten, € 19,99, ISBN 978-3-88680-943-1