Geschichten hinter dem Kirchenaustritt
15. Juli 2021"Ich habe mich lange damit auseinandergesetzt. Und dann war es eine totale Befreiung." Doris Bauer (53) aus Köln, ist im vorigen Jahr aus der katholischen Kirche ausgetreten. Dabei war sie eine ausgesprochen aktive Katholikin. In der Pfarrgemeinde St. Agnes in Köln engagierte sich die 53-Jährige als Lektorin und Kommunionhelferin.
Die Diplom-Sozialarbeiterin und -Sozialpädagogin ist auch jetzt noch bei der Reformbewegung "Maria 2.0" mit dabei, die die Gleichberechtigung der Frau in der katholischen Kirche anstrebt. Bauer ist eine von mehr als 441.000 Christinnen und Christen in Deutschland, die im Jahr 2020 ihrer Kirche den Rücken kehrten.
Im Jahr 2020, das so von der Corona-Pandemie geprägt war, verzeichneten beide Großkirchen jeweils rund 50.000 Austritte weniger als im Jahr 2019. Und doch liegt die Zahl gerade auf katholischer Seite noch über den Vergleichswerten vieler früherer Jahre.
Kirchensteuer als deutsche Besonderheit
Es ist eine historisch gewachsene deutsche Eigenart, wie detailliert der Kirchenaustritt geregelt ist und wie genau deren Zahl zu erfassen ist. Wer aus seiner kirchlichen Glaubensgemeinschaft austreten will, muss diesen Schritt bei einer staatlichen Behörde melden. Dann geht die Meldung an die jeweilige Kirchengemeinde.
Die strikte Verbindung von Kirchenmitgliedschaft und Zahlung der Kirchensteuer gibt es so in kaum einem anderen Land. Deswegen sind die Zahlen in Deutschland auch genauer erfasst als in anderen Ländern. Und deswegen ist das Rätseln oder die Ursachenforschung der kirchlichen Verantwortungsträger fester Bestandteil der jährlichen Veröffentlichung der Statistik. "Viele haben das Vertrauen verloren und möchten mit dem Kirchenaustritt ein Zeichen setzen", sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing. Kirche müsse sich dem "offen und ehrlich stellen".
Und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich-Bedford-Strohm, betonte, mit jedem Kirchenaustritt stelle sich ihm die Frage, "was wir als Kirche tun können, um Menschen vom guten Sinn der Mitgliedschaft in unserer Kirche zu überzeugen".
Sexueller Missbrauch als ein Austrittsgrund
Doris Bauer benennt den Grund ihres Austritts sehr konkret. Zum Nachdenken habe sie das Verhalten der katholischen deutschen Bischöfe nach der sogenannten MHG-Studie aus dem Jahr 2018 gebracht, einem umfassenden wissenschaftlichen Werk, das Ursachen und Zusammenhänge rund um das Thema sexuelle Gewalt durch Kirchenleute untersuchte. "Da gab es keinerlei Anstalten, Verantwortung zu übernehmen oder konkret etwas für Veränderungen zu unternehmen. Die Amtsträger wollen keine Veränderungen, sie wollen keine Geschlechtergerechtigkeit", so die Kölnerin.
Nach ihrer Überzeugung hat sich die derzeitige kirchliche Verfasstheit "überlebt", zu der eine formelle Mitgliedschaft und die Macht der Kirche über die Mitglieder gehören. "Die Amtskirche verkauft sich als moralische Instanz. Aber sie lebt ihre eigenen Werte nicht."
Unter den 27 deutschen Bistümern nimmt das Erzbistum Köln mit 17.281 Austritten keineswegs einen Spitzenplatz ein. Im Erzbistum München-Freising ist die Zahl mit 22.595 höher. Auch andere Bistümer, so Freiburg und Berlin, verzeichnen in absoluten Zahlen oder in Relation zur Gesamtzahl der Gläubigen eine größere Zahl. Dabei steht das von Kardinal Rainer Maria Woelki geleitete Erzbistum Köln seit dem Herbst 2020 massiv in der Kritik. Sie gilt dem Umgang mit Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch und von Vertuschung. Sie gilt auch der Wahrnehmung von Verantwortung.
Eine Mischung aus Wut, Trauer und Mut
An diesem Mittwoch, einen Tag nach Veröffentlichung der neuen Zahlen, tritt Andreas Niessen in Köln aus der katholischen Kirche aus. "Morgen um elf Uhr", sagt er. Der 56-jährige Lehrer ist nach eigenem Bekunden kirchlich geprägt. Mit seiner Frau ließ er einst die mittlerweile erwachsenen Kinder taufen. "Sie haben viele christliche Werte gelernt." Und nun geht er. Mit welchem Gefühl? Niessen nennt Wut und Trauer, dann Genugtuung sich selbst gegenüber, auch Mut.
"Der Graben zwischen den christlichen Werten und dem Handeln der Amtskirche und derer, die die Macht haben, wurde immer größer", sagt Niessen im DW-Gespräch. Für ihn sei der Umgang mit dem Thema Missbrauch "nur die Spitze des Eisbergs". Auch dabei gehe es um institutionelle Macht. "Dieser moralische Unterschied zwischen geweihten Menschen und dem Rest der Welt - das ist so etwas von aus der Zeit gefallen", betont der 56-Jährige. Und noch etwas ist ihm wichtig: Kirche zeige keine Wertschätzung für gesellschaftliche Vielfalt. Dazu gehöre auch das Thema Homosexualität.
Wartelisten zum Verlassen der Kirche
Niessen musste warten auf einen Termin für den Kirchenaustritt. In der Stadt Köln gibt es bei den Behörden Wartelisten für jene, die diesen Schritt gehen wollen. Im benachbarten Bonn stockte das Amtsgericht vor einigen Wochen eigens das Personal bei der Kirchenaustrittsstelle auf.
Aber in der Regel ist es ein leiser Verwaltungsschritt. Dagegen sagt Doris Bauer auch: "Es war mir wichtig, laut auszutreten, nicht stillschweigend." Sie gab Interviews, erläuterte den Schritt auch vielen Bekannten in der Gemeinde.
Und sie sagt heute: "Ich möchte keiner Konfession mehr beitreten." Denn jede Konfession beanspruche für sich eine Wahrheit – und grenze sich damit von anderen ab. Derzeit gehe sie in Köln mal in einen katholischen, mal in einen evangelischen Gottesdienst, "wo es stimmig ist".
Glaubenszuflucht bei den Alt-Katholiken
Andere gehen formell den Schritt in eine andere Kirche: Einer derer, die auch diese Kirche verlassen wollen, hat nun seinen Termin für September. Und in der Nachricht, die er schreibt, fügt er hinzu, dass er dann gleich bei den Alt-Katholiken, den von Rom unabhängigen Kirchen, eintreten wolle.
Ob das öfter vorkommt? Ob die alt-katholische Kirche, entstanden vor knapp 150 Jahren aus dem Streit um die betonte Heraushebung der Rolle des Papstamtes durch das Erste Vatikanische Konzil (1870/71), das bemerkt? Matthias Ring, der alt-katholische Bischof in Deutschland, spricht von einer "statistischen Anomalie". Sein bundesweites Bistum registriere von Januar bis Mai 2021 so viele Beitritte wie im gesamten Jahr vorher, nämlich 180. Das ist wahrlich keine große Zahl. Aber bei einer Kirche, der in Deutschland insgesamt rund 15.000 Christen angehören, ist sie schon auffallend.
Es ist nach Angaben des Bischofs kein flächendeckendes Phänomen. Eine Häufung zeige sich in Köln und Bonn. Und er höre von seinen Geistlichen, sagt Ring der Deutschen Welle, dass sich der Typ derer, die sich der alt-katholischen Kirche anschlössen, verändert habe. "Da melden sich auch Menschen, die in ihrer römisch-katholischen Kirche zum Kern gehörten und dort aktiv waren."