Kinderpsychologe: Missbrauch löst Störungen aus
8. August 2018Deutsche Welle: Was geht im Kopf einer Mutter vor, die ihr eigenes Kind missbraucht und an Männer verkauft, die sich dann ebenfalls an dem Jungen vergehen?
Michael Kölch: In einem solchen Fall ist sicherlich die Empathie nur mangelhaft ausgeprägt und auch das Gefühl der Fürsorge gegenüber diesem Kind. Auch eine Abhängigkeit vom pädophilen Partner kann eine Rolle spielen. All das ist mit einer Empathielosigkeit gegenüber dem Kind verbunden. Während es Pädophilen um sexuelle Lust geht, war es bei der Mutter wohl eher so, dass sie mit ihrem Verhalten die Beziehung zu ihrem Lebensgefährten stabilisieren wollte.
Wir kennen diese Fälle von extremer Pädophilie und auch die Darbietungen im Darknet. Diese Fälle schockieren immer wieder, auch dass Kinder solche Dinge erleben und das über eine längere Zeit. Die Erlebnisse dieses Jungen sind in jedem Fall erschütternd.
Welche psychischen Störungen könnte der Junge davontragen?
Es gibt kein "Alles-oder-nichts-Gesetz". Mit absoluten Vorhersagen müssen wir immer vorsichtig sein. Bei dem Jungen [in Staufen] war es nicht nur einmaliger sexueller Missbrauch. Hier kamen viele Faktoren zusammen, die übrigens typisch sind: emotionale Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch und das über mehrere Jahre hinweg.
Generell können solche Erlebnisse zu vielfältigen psychischen Symptomen und Störungen führen. Es kann zu Depressionen kommen und auch zu Gewalttätigkeit. Letztendlich kann der Junge all diese Symptome zeigen. Er ist ja offenbar in der Schule durch Gewalt und Aggression auffällig geworden. Natürlich können solche Kinder posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln, aber meist ist es eine sehr komplexe Psychopathologie, die diese Kinder und Jugendlichen dann bis ins Erwachsenenalter begleitet, wenn nicht entsprechend auch therapeutisch reagiert wird.
Welche weiteren Konsequenzen kann der Missbrauch haben?
Missbrauchsopfer entwickeln später eine schlechtere, körperliche Gesundheit, wie wir inzwischen aus Forschungsergebnissen wissen. Es gibt vielfältige Erklärungsmuster. Diese Personen verfügen über geringe Selbstfürsorge und gehen seltener zum Arzt. So werden Krankheiten oft erst spät erkannt. Solche schweren, traumatisierenden Erlebnisse können auch zu epigenetischen Veränderungen führen. Vereinfacht gesagt: Es kann sein, dass der Körper schneller altert.
Wie hat der Junge diesen ständigen Missbrauch überhaupt ertragen?
Meistens entwickeln Kinder einen gewissen Dissoziationsmechanismus. Damit ist gemeint, dass sie das Erlebte von ihrem Alltag abtrennen. Langfristig führt dies aber dazu, dass die Kinder Probleme mit ihrem Körper haben können, dem das angetan wurde. Das kann sich dann darin zeigen, dass sie sich oft wenig um sich kümmern oder sich selbst Verletzungen zufügen. Sie brauchen das Gefühl, ihren Körper "negativ" zu spüren, und nur noch durch diese extremen Verhaltensweisen können sie das erreichen.
Wie schätzen Sie die Folgen dieses Missbrauch für den Jungen ein?
Man muss ganz vorsichtig sein, was einen einzelnen Betroffenen mit Prognosen angeht. Eher allgemein wissen wir, dass die Folgen relativ vielfältig sein können, gerade auch, weil hier so vieles so vieles zusammenkam. Hätte er nur einmal ein solches Erlebnis gehabt, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass er beispielsweise eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, relativ hoch. Aber dieser Junge hat Vernachlässigung, Misshandlungen und Missbrauch über längere Zeit erlebt. Das kann zu einem sehr breiten Spektrum von affektiven Störungen führen, von Depressionen und Ängsten hin zu Störungen des Sozialverhaltens mit großer Impulsivität. Wichtig ist aber auch, dass es nicht zwangsläufig zu diesen Störungen kommt. Es kommt auch darauf an, wie nun mit ihm umgegangen wird.
Wie können Sie ein solches Kind behandeln?
Zunächst einmal müssen wir schauen, ob sich Symptome entwickeln. Gibt es einen Gesprächsbedarf? Hat er zum Beispiel Angst? Zeigt er aggressives, impulsives Verhalten? Hat er Schlafprobleme? Schlägt er andere Kinder? Hat er Angst davor, in den Keller zu gehen? Bekommt er Panikattacken oder ähnliches? Zeigt er kinderpsychiatrische Auffälligkeiten? Es geht auch darum, was er erzählen möchte. Letztendlich muss der Therapeut versuchen, eine emotionale Stabilisierung zu erreichen und dem Alter entsprechend auf die emotionalen Bedürfnisse einzugehen.
Michael Kölch ist Professor an der Medizinischen Hochschule Brandenburg für Kinder und Jugendpsychiatrie und stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie.