Städte ohne Rücksicht auf Kinder
3. März 2012Deutsche Welle: Herr Recknagel, Terre des Hommes unterstützt weltweit Projekte für Kinder und Jugendliche. Welche besonderen Probleme sehen Sie für Kinder, die in Städten aufwachsen?
Albert Recknagel: Zu den größten Problemen und Herausforderungen zählt die Schaffung von gesunden und sicheren Wohnverhältnisse. In der Realität sieht es so aus, dass es häufig kein sauberes Trinkwasser gibt und meist nur billige Fertignahrung. Im Vergleich zur Lebenssituation und den Lebensumständen auf dem Land wachsen Kinder in Großstädten teilweise unter wesentlich schlechteren Bedingungen auf. Das fängt an mit der fehlenden Sicherheit auf der Straße, vor allem nach Einbruch der Dunkelheit - davon sind besonders Mädchen betroffen. Es gibt kaum langfristige Arbeitsperspektiven, und wenn, dann nur im informellen Sektor, das heißt, in prekären Arbeitsverhältnissen ohne soziale Absicherung, ohne Gesundheitsversicherung, ohne Anspruch auf Rente oder Arbeitslosengeld. Und man muss in diesem Zusammenhang auch die besondere Situation der Straßenkinder erwähnen, die ja nun ein typisches Phänomen der Städte sind und nicht des ländlichen Raumes.
Immer mehr Menschen leben in Städten, und bald wird auch die Hälfte aller Kinder der Welt in Städten aufwachsen. Werden die besonderen Bedürfnisse von Kindern bei der Stadtplanung überhaupt ausreichend berücksichtigt oder hat man sie vergessen?
Nach unserer Wahrnehmung werden sie selten bis gar nicht berücksichtigt und wenn, dann oft nur aus der Erwachsenensicht mit Blick auf Freizeitgestaltung, Spiel und Sport - die sogenannten "soft issues". Aber bei den harten Fakten oder Problemen wie Straßenbau, Lärmschutz, Planung von Wohnungsanlagen werden die Belange von Kindern in der Regel nicht berücksichtigt. Das trifft sogar auf die Architektur und Ausgestaltung von Schulen zu, auch in Deutschland. Unsere Schulen erinnern eher an Kasernen als an motivierende Lernräume.
Ihrer Ansicht nach gäbe es also auch hier in den reicheren Industriestaaten einen Nachholbedarf bei kindergerechter Planung, Stadtplanungen, sozialen Einrichtungen usw.?
Auf alle Fälle, auch wenn die Dimensionen von Armut und Elend und der Probleme insgesamt selbstverständlich ganz andere sind. In den Ländern der Dritten Welt kämpfen Millionen Kinder und ihre Familien tagtäglich ums Überleben. Das ist in den Industrienationen so nicht der Fall. Trotzdem sehe ich auch in unseren Städten Nachholbedarf, vor allem bei Fragen der Mitbestimmung oder der Frage, welche Gestaltungsräume man Kindern und Jugendlichen eigentlich geben möchte. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verlangt ganz klar und eindeutig die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen bei allen sie betreffenden Fragen und Planungen. Dies wird in unseren Gemeinden und Städten bislang nicht wirklich umgesetzt.
Vielleicht liegt das auch daran, dass Kinder kein Wahlrecht haben und sich von daher auch die Kommunalpolitiker und Stadtpolitiker nicht unbedingt in der Bringschuld sehen. Glauben Sie, dass dieser UNICEF-Bericht hilfreich sein wird in dem Sinne, dass er zumindest anregen könnte, Kinder bei der Stadtplanung besser zu berücksichtigen, dass man da offener wird?
Das hoffe ich. Deswegen veröffentlichen Organisationen wie die UNICEF oder auch Terre des Hommes diese Art von Berichten und Gutachten. Wir wollen zumindest versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Laut Verfassung haben Kinder ein Recht darauf, gehört zu werden und mitzubestimmen, wenn es um ihre Belange geht. Dass dies funktionieren kann, belegen Beispiele aus vielen von Terre des Hommes geförderten Projekten. Erstaunlicherweise haben wir die interessantesten Beispiele aus Entwicklungsländern.
In Südafrika zum Beispiel prüfen Jugendliche die Bereitstellung und Ausgabe staatlicher Haushaltsmittel für Kinder. Das ist das sogenannte Child-Budget-Monitoring. Oder in Nepal nehmen Kinder eigentlich inzwischen wie selbstverständlich an Sitzungen der Dorfentwicklungskomitees, von Netzwerken und Verbänden, teil. In Via el Salvador in Lima, einem der größten Elendsviertel in den Randbezirken der peruanischen Hauptstadt, arbeiten Kinder und Jugendliche im Stadtrat inzwischen offiziell mit und stimmen sogar ab.
Diese Beispiele machen Mut und zeigen, dass es durchaus möglich ist, Kindern ein Mitspracherecht einzuräumen. Es geht nicht darum, den Slogan 'Kinder an die Macht' umsetzen. Es geht darum, Kinder und Jugendliche gemäß ihrer Möglichkeiten anzuerkennen und an der Gestaltung von Zukunft mitwirken zu lassen. Kinder sind demnächst verantwortlich für die Entwicklung auf diesem Planten und man sollte sie so früh wie möglich auch in diese Diskussionen und Entscheidungen mit einbeziehen.
Das Gespräch führte Helle Jeppesen
Redaktion: Mirjam Gehrke