Jugendämter haben oft zu wenig Personal für Gewaltprävention
19. Mai 2015Die meisten betroffenen Kinder sind nicht einmal sechs Jahre alt und erfahren täglich körperliche Misshandlungen. Sie werden getreten, geboxt, gestochen oder verbrüht. Die Zahl dieser Angriffe nahm im vergangenen Jahr um fast fünf Prozent zu. Jede Woche im Jahr 2014 kamen in Deutschland zwei Kinder wegen Gewalttaten oder durch Vernachlässigung zu Tode. 14.395 erlebten sexuelle Gewalt.
Was der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, in seiner Statistik auflistet, umfasst nur das, was durch Anzeigen und Polizeiermittlungen bekannt wurde. Die Zahlen verbergen eine hohe Dunkelziffer an Taten und die Tatsache, dass Gewalt gegen Kinder viel mehr ausmacht als rein körperliche Gewalt mit direkt sichtbaren Folgen. Vertreter von Kinderschutzverbänden bestätigen dies immer wieder. Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender des Vereins der Deutschen Kinderschutzhilfe begleitete die Veröffentlichung des BKA-Präsidenten und kennt Fälle besonderer seelischer Qualen. Ein Kind wurde zum Beispiel über Nacht in kaltem Wasser sitzen gelassen. "Viele Fälle machen fassungslos", so Becker.
Seelische Gewalt oft schlimmer als Ohrfeigen
Liebesentzug als Strafe, wenige oder gar keine Streicheleinheiten, mangelnde persönliche Zuwendung, langes Einsperren in Kellern, unzureichende Ernährung, ständiges Allein-Lassen, Drohungen und Demütigungen tauchen nicht in Kriminalstatistiken auf, zählen aber für Ärzte und Psychologen ebenso zu schwerer Gewalt gegen Kinder. Die Folgen sind für die schutz- und wehrlosen Menschen Schlafstörungen, Albträume, Bettnässen, Angstzustände oder Sprachstörungen.
"Das Schlimmste ist, wenn das Vertrauen von Kindern in ihre unmittelbaren Bezugspersonen enttäuscht wird." Immer noch stammten die meisten Täter aus dem familiären Umfeld. "Das Thema Gewalt gegen Kinder zieht sich durch die gesamte Gesellschaft und ist keine Frage einer sozialen Unterschicht", stellt Kathinka Beckmann fest. Die Professorin am sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Koblenz hat auf dem Gebiet viel geforscht. Die Gründe für Gewalt gegen Kinder, vor allem chronisch Kranke und Behinderte, seien immer wieder totale Überforderung der Eltern oder Streit in der Partnerschaft - keinesfalls nur bezogen auf besonders arme Lebensverhältnisse.
Bessere Hilfen statt neuer Gesetze
Viele Gesetze wurden erlassen und ausgeweitet, um den Kinder- und Jugendschutz in Deutschland zu verbessern. Doch erst im Jahr 2000 gelang es, ein Recht auf "gewaltfreie Erziehung" festzuschreiben und "das Züchtigungsrecht des Vaters", das es tatsächlich Anfang des vergangenen Jahrhunderts noch gab, endgültig zu verbieten. In den 1990er Jahre brachte das Kinder- und Jugendhilfegesetz mehr Therapieangebote. Das Bundeskinderschutzgesetz sorgt seit 2012 für Hilfsangebote von Erziehungsberatungsstellen, an die sich Eltern wenden können, die sich gestresst und überfordert fühlen. Gesetze gebe es genug. Cordula Lasner-Tietze vom Deutschen Kinderschutzbund aber findet, dass viele Hilfsangebote noch nicht richtig ineinander greifen. "Wir haben einfach kein richtiges Beschwerde- und Kontrollorgan", sagt Sozialforscherin Kathinka Beckmann. Beide Expertinnen sehen Jugendämter mit vielerorts zu wenigen Mitarbeitern überfordert, echte Gewaltprävention zu sichern.
Erfolg habe zuletzt die Einrichtung von Familienhebammen gebracht. Sie begleiten in engstem Kontakt Familien mit Kindern bis zum ersten Lebensjahr und erhalten rechtzeitig Warnhinweise. Die Folge: Die Tötungen von Kleinkindern ging 2014 um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück.
Initiativen gegen Gewalt
Viele private Initativen haben sich gegründet, um Gewalt gegen Kinder vorzubeugen. Eine führende Krankenkasse zum Beispiel hat mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte einen Leitfaden erstellt, mit dem Kinderärzte bei Untersuchungen besser erkennen können, ob es sich bei Wunden um normale Alltagsverletzungen oder um Merkmale brutaler Übergriffe handelt.
Die Ärzteinitiative "riskid" des Kinder- und Jugendarztes Ralf Kownatzki und dem Duisburger Polizeibeamten Heinz Sprenger, will ebenfalls schon Verdachtsfälle rechtzeitig erkennen können und helfen.
Auch das Bundeskriminalamt reagiert auf die jüngste Kriminalstatistik. Weil danach die Anfertigung und Verbreitung von Kinderpornografie ein immer noch großes Phänomen ist, soll ein verbessertes Ermittlungskonzept auch mit gezielten Öffentlichkeitsfahndungen an Schulen greifen. Europol und Interpol sollen verstärkt eingebunden werden. "Wir wollen dem Leid der Kinder mit allen Möglichkeiten begegnen", so BKA-Präsident Münch. Der Verein Deutsche Kinderhilfe will Betroffene Kinder besser aufklären und begleiten. Sie sollen starke Zeugen sein und zu einer hohen Aufklärungs und Verurteilungsrate führen.