Kinder des Krieges
8. Mai 2018Majida Al-Omar war fünf Jahre alt, als eine Fassbombe ihr rechtes Bein zerfetzte. Sie erinnert sich noch genau an den Tag des Angriffs - auch wenn sie sich oft wünscht, dass es nicht so wäre. "Wir waren in einem kleinen Lastwagen mit zehn anderen Leuten. Plötzlich hat ein Flugzeug auf uns geschossen", sagt die heute Zehnjährige und blickt schüchtern Richtung Boden, "und dann war alles verbrannt, alles war schwarz".
Das war im Februar 2013 - und Majida mit ihren Eltern und vier Geschwistern auf der Flucht aus dem umkämpften Ost-Aleppo. "Als ich nach dem Angriff wieder zu mir kam, habe ich sie dort liegen sehen, ihr Bein war weg", erinnert sich Majida's Mutter Zalihe. "Überall waren Leichen, verkohlte Leichen. Es war, als ob sich die Hölle auftut". Majida wurde in ein Feldkrankenhaus gebracht, ihr Bein musste sofort amputiert werden.
Eine "verwundete Generation"
Der Familie gelang schließlich die Flucht in die Türkei. Sie leben heute in Gaziantep, gut 60 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Eine halbe Million Syrer hat die Stadt aufgenommen, sie sind in Camps außerhalb untergekommen oder, wie Majidas Familie, im Zentrum. In der kleinen Wohnung erinnert nichts an die Heimat, es gibt keine Fotos, keine Andenken an das alte Leben, nur die Erinnerungen. "Als wir dann irgendwann aus dem Krankenhaus raus kamen, lagen draußen im Hof ganz viele Leichen", sagt Majida. "Eine war unbedeckt. Meine Schwester hat sich die Augen zugehalten, aber ich nicht. Ich wünschte, ich hätte nicht hingeguckt. Ich kann dieses Bild nie wieder vergessen".
1,5 Millionen Menschen haben nach Angaben der UN infolge des Syrien-Krieges eine Behinderung. Mehr als 80.000 von ihnen mussten Gliedmaßen amputiert werden - viele davon sind Kinder wie Majida. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF spricht von einer "ganzen Generation mit körperlichen und seelischen Schäden".
Majida kann wieder laufen
Majida ist heute zehn Jahre alt und hat wieder laufen gelernt - mit einer Prothese und viel Übung. Sie sagt, sie sei froh, dass sie das künstliche Bein hat. Doch der Alltag ist oft kompliziert. "Andere Kinder wachen morgens auf und springen aus dem Bett. Sie ziehen sich was an, schnappen sich ihre Taschen und laufen zur Schule", sagt Majida. "Ich brauche immer erst mal eine Stunde, bis mein Bein richtig dran ist. Manchmal muss Mama mir helfen".
Alle paar Monate muss Majida zur Kontrolle in die kleine Klinik, die syrische Ärzte und Therapeuten in Gaziantep aufgebaut haben. Hier bekommen kriegsversehrte Patienten künstliche Arme oder Beine. Das "Will Steps Rehabilitation Center" wird aus Spenden finanziert, auch aus der EU.
Die Untersuchung an ihrem Stumpf ist Majida unangenehm. Zum Glück muss sie nicht mehr so oft kommen wie am Anfang, als sie ihre Prothese neu hatte. Die Narbe an ihrem Bein macht keinen Ärger, das ist die Hauptsache. Das Lauftraining mit ihrem Physiotherapeuten macht ihr mehr Spaß: Treppensteigen, Balance-Übungen. Majida ist inzwischen so gut, dass ihre Prothese kaum noch auffällt.
Prothesen für Kriegsversehrte
"Wir wollen, dass unsere Patienten sich wohl fühlen mit der Prothese, dass sie im Alltag alles machen können - ohne Einschränkungen", sagt Physiotherapeut Anas Alsofi. "Majida ist mutig und hat einen starken Willen, deshalb hat sie alles sehr schnell gelernt und kommt gut zurecht". Ihm ist es wichtig, dass Majida nach oben schaut, nicht nach unten. Sie soll gar nicht an ihr Bein denken.
Die Klinik hat ihre eigene Prothesenwerkstatt. Ein bis zwei Tage braucht das Team, um ein künstliches Bein herzustellen. Die Grundbauteile wie Fuß und Gelenk werden von einer deutschen Firma geliefert. In Gaziantep werden die Prothesen dann zusammengebaut und angepasst. Etwa 15 Patienten pro Monat bekommen hier neue Gliedmaßen, sagt Prothetiker Mustafa Al-Khatib, der in Syrien vor dem Krieg als Krankenpfleger gearbeitet hat. Die Klinik könnte noch mehr Menschen versorgen, sagt er. Doch die Türkei hat die Grenze zu Syrien Anfang 2016 so gut wie dicht gemacht. "Seitdem kommen nicht mehr so viele".
Alpträume und Ängste
Majida hat noch einen Termin - mit Walaa Hamza, der Psychologin. Sie behandelt die Wunden, die niemand sehen kann. Majida besucht sie seit Jahren. Manchmal malen sie zusammen, oder sie kneten, so wie heute.
Walaa, die auch aus Syrien kommt, versucht im Gespräch herauszufinden, was in Majida und den anderen Kindern vorgeht - wie der Krieg sie verändert hat. "Die Kinder werden manchmal aggressiv und wütend", sagt sie. "Viele werden von schlimmen Albträumen geplagt. Manchmal zeigt sich ihr Trauma in der Art, wie und was sie spielen. Sie stellen dann zum Beispiel Szenen aus dem Krieg nach."
Auch der Alltag mit der Prothese mache vielen Kindern zu schaffen. Majida geht inzwischen auf einer staatlichen türkischen Schule in die 4. Klasse. Mathe ist ihr Lieblingsfach, erzählt sie stolz, und das sie später einmal Ärztin werden will. Aber andere Kinder gingen oft auf Abstand, sobald sie von ihrem Bein erfahren. "Als die Kinder in der Schule noch nichts von meinem Bein wussten, waren sie nett", sagt Majida. "Aber als sie gemerkt haben, was mit mir los ist, haben sie nicht mehr mit mir gespielt. Und nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen werden komisch. Meine Lehrerin behandelt mich extra vorsichtig. Wenn ich das Bein vergesse, erinnert sie mich daran, dass es da ist."