Kenan Kolat: Regierung verharmlost Rassismus
1. November 2012Die Enttäuschung sitzt tief bei Kenan Kolat (Artikelbild links), dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Es sehe nicht danach aus, dass die politische Klasse verstanden habe, "dass wir es mit dem größten Sicherheitsskandal seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zu tun haben", empört er sich am Donnerstag in Berlin. Kolat äußert seine Kritik drei Tage vor dem Jahrestag der Aufdeckung des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Die rechtsextremistische Terrorgruppe soll im Zeitraum von 2000 bis 2007 neun Menschen mit ausländischen Wurzeln und eine deutschstämmige Polizistin ermordet haben.
Kolat ist nicht der einzige, der an diesem Tag Politik und Sicherheitsbehörden die Leviten liest. Neben ihm sitzen der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, Sebastian Edathy, die Opfer-Ombudsfrau Barbara John und der Enkel eines Rassismus-Opfers. Ibrahim Arslan überlebte als Kind den fremdenfeindlichen Brandanschlag in Mölln 1992. Seine Schwester, eine Großmutter und eine Cousine kamen ums Leben.
Ein Hinterbliebener klagt an
Der junge Mann schließt sich dem Vorwurf Kolats an, Rassismus sei längst "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen. Es sei Zeit, "ein Opfer zu hören", sagt Arslan. Er wolle kein Mitleid, sondern dass Menschen einschritten, wenn andere angegriffen würden, betont er. Zehn Jahre habe er um seine Opferentschädigungsrente kämpfen müssen, erzählt Arslan bei der kurzfristig angesetzten Pressekonferenz. Sie findet in den Räumen der Türkischen Gemeinde im Ortsteil Kreuzberg statt, wo ein Großteil der etwa 250.000 Berliner Türken und Türkischstämmigen lebt.
Barbara John, die sich im Auftrag der Bundesregierung als Ombudsfrau um die Hinterbliebenen der Mordserie und Opfer von anderen Neonazi-Anschlägen kümmert, spricht von "seelischer Schwerstarbeit", die von diesen Menschen zu leisten sei. Vor dem Bekanntwerden der wahren Hintergründe seien sie über Jahre isoliert gewesen, weil die Sicherheitsbehörden Täter und Motive im Umfeld der Opfer-Familien vermutet hätten. Durch das Auffliegen des NSU am 4. November vergangenen Jahres sei "eine große Last" von ihnen abgefallen, berichtet John. Zugleich mahnt die frühere Berliner Ausländerbeauftragte mehr Aufklärungswillen an. Es dürfe nicht sein, dass die Taten "mit Gedenkfeiern und Gedenktafeln abgeschlossen werden".
Ombudsfrau John beklagt "Eigenleben" der Behörden
John erinnert an das Versprechen der Bundeskanzlerin im Rahmen der zentralen Gedenkfeier für die Opfer des NSU-Terrors, die am 23. Februar in Berlin stattgefunden hat. Angela Merkel versicherte damals, die Taten aufzuklären und Konsequenzen aus den Fehlern zu ziehen. Sie glaube ihr das auch, betont Barbara John gut acht Monate danach. Doch sei das Versprechen bisher nicht eingelöst worden. Die Ombudsfrau erklärt sich das mit dem "Eigenleben", das die Behörden in Deutschland führten. Wie der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses Edathy hält John einen Struktur- und Mentalitätswandel bei der Polizei und beim Verfassungsschutz für notwendig.
Die Bundesregierung solle eine Stiftung errichten, regt Barbara John an. Eine solche Stiftung könne zum Beispiel dokumentieren, wie in der NSU-Mordserie ermittelt worden sei und welche Konsequenzen im Umgang mit Rassimus daraus generell zu ziehen seien. Kenan Kolat, würde am liebsten den Verfassungsschutz in seiner bestehenden Form abschaffen. "Er gefährdet den demokratischen Rechtsstaat", meint der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland unter dem Eindruck der zahlreichen Ermittlungspannen. Zugleich fordert Kolat, eine Beobachtungsstelle gegen Rassismus zu schaffen.