EU bleibt zögerlich
22. Juli 2014In die laufende Sitzung der EU-Außenminister in Brüssel wurde die Meldung gereicht, dass die Kühlwaggons mit den sterblichen Überresten der Opfer von Flug MH17 in der Stadt Charkiv angekommen sind. Erleichterung machte sich bei den 28 Außenministern breit, dass mehrere Hundert Leichen jetzt auf Territorium angelangt sind, das von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird. Der niederländische Premierminister Mark Rutte hatte angekündigt, er wolle die Leichen zur Identifizierung nach Amsterdam ausfliegen lassen. Ob in dem Zug alle 298 Todesopfer des vermutlich von pro-russischen Separatisten abgeschossenen Flugzeugs sind, ist unklar. "Uns eint in Europa die Trauer um die Opfer, aber ebenso auch die Empörung über den Umgang der Separatisten mit den Leichnamen, zynisch und menschenverachtend, wie wir über viele Tage sehen mussten", sagte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu Beginn des Ministertreffens.
Der niederländische Außenminister Frans Timmermanns traf am Morgen aus New York von einer Sitzung des Weltsicherheitsrates kommend in Brüssel ein. Er sagte, die Niederlande würden schärfere Sanktionen gegen Russland nicht blockieren. Vorrang hätte aber die Bergung der Opfer. "Die Niederlande wollen, dass die EU eindeutig Stellung nimmt zu den Vorkommnissen in der Ost-Ukraine und feststellt, dass Russland wirklich zu wenig tut, um sich von den Separatisten zu distanzieren", sagte Timmermanns. Der Weltsicherheitsrat hatte zuvor eine Resolution mit Zustimmung Russlands angenommen, in der eine Aufklärung der Absturzursache des Fluges MH17 gefordert wird, der vergangenen Donnerstag auf von Separatisten kontrolliertes Gebiet in der Ukraine niederging.
Vorerst keine harten Wirtschaftssanktionen
Die EU-Außenbeauftrage Catherine Ashton machte in Brüssel klar, dass harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland vorerst kein Thema für die Außenminister seien. Die EU-Botschafter würden lediglich angewiesen, die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs vom letzten EU-Gipfel vergangenen Mittwoch zu prüfen und deren Umsetzung zu organisieren. Der Gipfel hatte die Kriterien für gezielte Sanktionen gegen einzelne Unternehmen und Personen ausgeweitet, aber noch keine Liste mit konkreten Namen beschlossen.
Der britische Premierminister David Cameron hatte am Montag den Eindruck erweckt, die EU müsse jetzt härtere Wirtschaftssanktionen beschließen. Sein neuer Außenminister Philip Hammond drängte in Brüssel heute auf mehr Härte, konnte sich aber nicht durchsetzen. "Jeder möchte ein ausgewogenes Maßnahmenpaket sehen, wenn wir vorangehen, aber die Welt hat sich seit dem letzten EU-Gipfel in der letzten Woche verändert", sagte Hammond. "Die Ereignisse vom letzten Donnerstag haben die Erwartungen der Öffentlichkeit an uns erhöht. Wir müssen klar signalisieren, dass wir das verstanden haben und Konsequenzen ziehen werden."
Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz erteilte neuen Sanktionen eine klare Absage. "Das ist kein Thema", so Kurz. Wirtschaftssanktionen und ein umfassendes Handelsembargo müssten ohnehin von den Staats- und Regierungschef einstimmig beschlossen werden. Österreich und Italien fürchten um ihre lukrativen Energie- und Pipelinegeschäfte mit Russland, vermuteten EU-Diplomaten.
Frankreich will kein Waffenembargo
Selbst ein Waffenembargo gegen Russland wird es wohl nicht geben. Der schwedische Außenminister Carl Bildt sagte zwar, es sei schwer verständlich, dass immer noch Waffen aus der EU nach Russland geliefert werden könnten, aber Frankreich möchte weiterhin mindestens ein Kriegsschiff an Russland ausliefern.
Der französische Präsident Francois Hollande wolle ein von Russland bestelltes Schiff im Oktober ausliefern lassen. Ein zweites wird noch gebaut. Wert der Lieferung: 1,2 Milliarden Euro. Der britische Premierminister David Cameron und auch US-Präsident Barack Obama hatten die französische Haltung - wenn auch nicht öffentlich - kritisiert. Deutschland dagegen hatte im April alle Exportgenehmigungen für Waffen- und Ausrüstungsgeschäfte mit der russischen Armee eingefroren.
"Russland trägt Verantwortung"
Die Schuld für die Zuspitzung der Lage in der Ukraine und den Abschuss der malaysischen Verkehrsmaschine geben die meisten EU-Außenminister eindeutig Russland eine Mitschuld. "Was im Himmel über der Ukraine geschah, ist das Ergebnis der fortgesetzten Waffenlieferungen an die sogenannten Separatisten in der östlichen Ukraine. Das ist der Grund für den Krieg und den Abschuss des Flugzeuges", erklärte der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski. Nachdem die Flugschreiber tagelang in den Händen der Separatisten waren und das riesige Trümmerfeld weder geschützt, noch systematisch ausgewertet wurde, ist eine genaue Untersuchung der Absturzursache wahrscheinlich schwierig, schätzten EU-Diplomaten.
Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte, der Westen habe auf alle erdenkliche Weise versucht, Gespräche mit Russland zu führen und eine Lösung für die Ukraine-Krise zu finden, offenbar vergeblich. "Russland hat seine Verabredungen nicht im erforderlichen Maße erfüllt, insbesondere über viele Tage keinerlei Distanz zum Verhalten der Separatisten erkennen lassen, und vor allen Dingen es nicht vermocht oder nicht organisiert, dass die Grenze zur Ukraine endlich dicht gemacht wird, damit Waffen und Kämpfer nicht weiter einsickern können", sagte Steinmeier. Härtere Sanktionen, also die sogenannte Stufe 3, befürwortete Steinmeier aber offenbar nicht. Die US-Regierung hatte von den Europäern in den letzten Tagen genau das aber verlangt. Ende Juni hatten die EU-Staats- und Regierungschefs der EU Konsequenzen angedroht, sollte Russland seine Grenzen zur Ukraine schließen und international kontrollieren lassen. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Abgeordneten im Europäischen Parlament, Herbert Reul, sagte im "Deutschlandfunk", man werde um härtere Sanktionen diesmal wohl nicht herumkommen.
US-Präsident Barack Obama hatte am Montag in einer Erklärung im Weißen Haus Russland und Präsident Wladimir Putin eine direkte Verantwortung für den Abschuss von MH17 zugewiesen. Die russische Regierung bestritt jegliche Verwicklung in den Abschuss und lenkte den Verdacht auf eine ukrainische Militärmaschine, die in der Nähe des Passagierjets geflogen sei.