Keine Ahnung von Sinti und Roma
3. September 2014Sinti und Roma als Nachbarn? Jeder dritte Deutsche findet diese Vorstellung "eher unangenehm" oder sogar "sehr unangenehm". Zu diesem Ergebnis gelangen die Autoren einer Studie, die sie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erstellt haben. Die Verfasser der am Mittwoch in Berlin vorgestellten Untersuchung nehmen für sich in Anspruch, die umfangreichste Analyse zu diesem Thema erstellt zu haben.
Dabei wollten das Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung sowie das Zentrum für Antisemitismusforschung auch erfahren, was die repräsentativ Befragten über Sinti und Roma überhaupt wüssten. Das Ergebnis: herzlich wenig. Diese Erkenntnis mündet in den Titel der gut 170 Seiten dicken Erhebung: "Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung". Kaum jemand wisse, dass diese Minderheit seit etwa 700 Jahren nach Europa und Deutschland einwandere, bedauert die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, Christine Lüders. Als prominente Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe nannte sie den Maler Pablo Picasso, den Schauspieler Charlie Chaplin und die Sängerin Marianne Rosenberg.
Romani Rose: "Die Juden waren zu reich, wir sind zu arm"
Die ganz große Mehrheit der Bevölkerung denkt bei Sinti und Roma jedoch nicht an berühmte Persönlichkeiten, sondern an Kriminalität, Bettelei oder sogenannte Armutszuwanderung. Romani Rose, langjähriger Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, ist entsetzt über die tief sitzenden Vorurteile. Das Feindbild "Zigeuner" sei "hochvirulent". Die Debatte über sogenannte Armutszuwanderung sei "an den Haaren herbeigezogen", meint Rose. Aus wahltaktischen Gründen sei das von Parteien wie der rechtsextremen NPD angestoßene Thema von anderen aufgegriffen worden.
Armut betreffe 24 Prozent der Menschen quer durch die Europäische Union, verweist der Zentralratsvorsitzende auf aktuelle Statistiken. Besonders damit in Verbindung gebracht werden aber - auch laut der aktuellen Studie - vor allem Sinti und Roma. Dieses althergebrachte Vorurteil schmerzt Rose besonders: "Die Juden waren zu reich, wir sind zu arm." Nachdrücklich wendet sich der ranghöchste Vertreter der Sinti und Roma gegen Diskussionen nach dem Motto "Wer betrügt, der fliegt!". Mit dieser Zuspitzung wird in Deutschland seit Monaten über die angebliche Armutszuwanderung aus Osteuropa in hiesige Sozialsysteme mehr polemisiert als argumentiert.
Christine Lüders: "Zeugnis einer drastischen Ablehnung"
Wie schlecht Sinti und Roma in Deutschland gelitten sind, belegt eine andere Zahl aus der Studie. Demnach ist die soziale Distanz zu dieser Minderheit mit 20 Prozent stärker als gegenüber jeder anderen. Es folgen Asylbewerber (15 %), Muslime (13 %), Osteuropäer (8 %), Juden (3 %) und Schwarze (2 %). Kein Wunder, dass die Antidiskriminierungsbeauftragte Lüders die Studienergebnisse als "Zeugnis einer drastischen Ablehnung" zusammenfasst. Diese Einschätzung spiegelt sich in der Wahrnehmung jedes zweiten Befragten wider, Sinti und Roma würden durch ihr Verhalten Feindseligkeit in der Bevölkerung hervorrufen.
Das Image der Minderheit ist also unverändert schlecht. Trotzdem können Lüders und Rose der Studie positive Seiten abgewinnen. So wüssten immerhin 81 Prozent, dass Sinti und Roma im Nationalsozialismus verfolgt wurden. Wohl auch deshalb finden es fast genauso viele gut, dass Deutschland an das Leid der Minderheit erinnert. Nach jahrelangen Diskussionen wurde 2012 direkt neben dem Bundestag in Berlin das zentrale Denkmal für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma der Öffentlichkeit übergeben.
Fast alle befürworten mehr Integrationsangebote
Rose und Lüders wollen aber mehr als gut gemeinte Rituale. Sie fordern von Politik und Gesellschaft mehr Unterstützung für die Minderheit. Dabei wissen sie knapp die Hälfte der Deutschen auf ihrer Seite. Denn laut Studie hält fast jeder Zweite Sinti und Roma für benachteiligt. Deshalb befürworten 91 Prozent Integrationsangebote und 63 Prozent stärkere Minderheitenrechte. Zugleich plädieren 50 Prozent für Einreisebeschränkungen und fast jeder Vierte sogar für Abschiebung.
Als konkrete Maßnahmen empfehlen die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle und der Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma gemeinsam einen jährlichen Bericht zur Lage dieser Minderheit in Deutschland. Mit Hilfe einer vom Bund finanzierten Bildungsakademie sollen die Aufstiegschancen verbessert werden. "Das bisschen Geld muss es Deutschland wert sein", findet Lüders.
Häufiger Opfer des "racial profiling"
Großen Nachholbedarf sieht sie weiterhin bei der Polizei und in anderen staatlichen Behörden. So werden ihren Beobachtungen zufolge Sinti und Roma aufgrund ihrer Herkunft und ihres Aussehens häufig Opfer des sogenannten "racial profiling". Sie werden also schneller krimineller Handlungen verdächtigt als andere Bevölkerungsgruppen. Ein Warnsignal sei die Studie, resümiert die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes. Christine Lüders findet die Ergebnisse insgesamt beschämend: "Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem sich Sinti und Roma verstecken müssen."