"Das IOC hat uns im Stich gelassen"
13. Februar 2023Als Kind hätte Karyna Kazlouskaya nie gedacht, dass sie einmal bei den Olympischen Spielen antreten würde. Das Bogenschießen war für sie nur ein Hobby, eine von vielen Sportarten, die sie mit ihren Freunden in ihrer Freizeit ausübte. Doch je mehr sie trainierte, desto besser wurde sie und machte schließlich ihr Hobby zum Beruf. Die bisherige Krönung für ihre jahrelange harte Arbeit: ein vierter Platz im Mannschaftswettbewerb bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021.
Doch was die Erfüllung eines Traums sein sollte, entwickelte sich für die Athletin zu einem Albtraum. Während des gesamten Wettbewerbs plagten sie Ängste, weil es Kazlouskaya gewagt hatte, sich gegen den Präsidenten ihres Landes, Alexander Lukaschenko, zu stellen. "Es war eine Menge Stress", sagt Kazlouskaya im Gespräch mit der DW. "Ich wollte wirklich zeigen, was ich kann, denn so einen großen Wettbewerb hat man vielleicht nur einmal im Leben."
Aber sie sei nicht in der Lage gewesen es zu genießen, so die Bogenschützin. "Ich stand unter der Kontrolle des Nationalen Belarussischen Olympischen Komitees. Es gab eine Menge Dinge, die ich nicht tun durfte. Sie stellten uns sogar jemanden zur Seite, wahrscheinlich vom KGB [Belarussischer Geheimdienst, Anm. d. Redaktion], der uns bei Dreharbeiten beobachtete."
Kazlouskaya: "Das IOC hat nichts unternommen"
In einer Zeit, in der das Internationale Olympische Komitee (IOC) trotz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine auf die Wiedereingliederung russischer und belarussischer Sportlerinnen und Sportler drängt, werden Regierungskritiker wie Kazlouskaya aufs Abstellgleich gestellt.
Sie ist eine von mehr als hundert belarussischen Athletinnen und Athleten, die mit Lukaschenkos Regime in Konflikt geraten sind. Seit seiner umstrittenen Wiederwahl im August 2020, die zu monatelangen Massenprotesten im Land geführt hatte, wurden offen kritische Sportlerinnen und Sportler inhaftiert. Sie verloren ihre von der Regierung gesponserten Arbeitsplätze und wurden - wie im Fall von Kazlouskaya - aus den Nationalmannschaften ausgeschlossen.
Für internationale Wettkämpfe gelten sie als staatenlos und werden wegen ihrer politischen Ansichten im eigenen Land geächtet. Selbst wenn andere Athletinnen und Athleten aus Belarus in Paris antreten dürften, würde Kazlouskaya nach derzeitigem Stand nicht unter ihnen sein.
Auf die Frage, ob sie sich vom IOC im Stich gelassen fühle, entgegnet Kazlouskaya: "Ja, das Gefühl ist da", und fügt hinzu, dass zwei Briefe, die sie wegen ihrer sportlichen Notlage an die Organisation geschickt hatte, unbeantwortet blieben. "Sie haben uns, die Menschen, die unter dem Regime leiden, einfach im Stich gelassen. Sie haben nichts unternommen", so die Athletin.
Drohungen und Einschüchterung
Seit sie im Jahr 2020 einen offenen Brief unterzeichnete, in dem sie Neuwahlen forderte, ist die 22-jährige Kazlouskaya nach eigenen Angaben Drohungen und Einschüchterungen ausgesetzt. Aus Angst um ihre Sicherheit beschloss sie im April letzten Jahres aus Belarus zu fliehen und ihre Karriere als Bogenschützin im benachbarten Polen fortzusetzen. "Der Vorsitzende des belarussischen Verbandes übte großen Druck auf mich aus", so Kazlouskaya. "Er sagte, ich solle meine politische Tätigkeit einstellen und still sein."
Nach Kriegsbeginn sei alles noch viel schlimmer geworden, berichtet die Bogenschützin im DW-Interview. "Wir wurden vom Sportministerium auf alles überprüft. Und mir wurde klar, dass es entweder mein letztes Jahr als Sportlerin sein würde oder dass ich das Land verlassen müsste."
Die Olympische Charta des IOC verpflichtet die Nationalen Olympischen Komitees (NOCs), "gegen jede Form von Diskriminierung und Gewalt im Sport vorzugehen." Andernfalls kann ein NOC suspendiert und seine Athletinnen und Athleten von Olympischen Veranstaltungen ausgeschlossen werden.
Das IOC reagiert nicht
Anfang des Monats forderte die Belarussische Sport-Solidaritäts-Stiftung (BSSF), eine von Oppositionssportlern angeführte Bewegung, das IOC auf, die von den Behörden bestraften belarussischen Sportlerinnen und Sportler zu verteidigen. Sie sollten das Recht erhalten, an Sportwettkämpfen teilzunehmen und vor der Verfolgung durch das Lukaschenko-Regime wegen ihrer politischen Haltung geschützt werden.
Das IOC hat sich bisher noch nicht zu dem Vorschlag des BSSF geäußert. Außerdem hat das IOC bisher nicht erklärt, warum das Belarussische Nationale Olympische Komitee, das von Alexander Lukaschenkos Sohn Viktor geleitet wird, bisher nicht suspendiert wurde, da offensichtlich gegen die Olympische Charta verstoßen wurde.
Tsimanouskaya möchte für Polen nach Paris
Der BSSF wurde gegründet, um oppositionellen Athletinnen und Athleten finanzielle und rechtliche Unterstützung zu gewähren. Zu ihnen gehören unter anderem die Sportlerinnen Kazlouskaya und Kristina Tsimanouskaya. Letztere sorgte bei den Spielen in Tokio für Schlagzeilen, als sie sich weigerte, einen Flug zurück nach Belarus zu nehmen. Die Sprinterin hatte ihren Trainer öffentlich kritisiert und aufgrund dessen war es zu Spannungen in ihrer Heimat gekommen. Wie Kazlouskaya lebt und trainiert auch Tsimanouskaya jetzt in Polen. Sie ist einem Leichtathletikverein in Warschau beigetreten und nimmt an lokalen Wettkämpfen mit anderen internationalen Sportlerinnen und Sportlern teil.
Obwohl die 26-Jährige die polnische Staatsbürgerschaft angenommen hat, muss sie nach den olympischen Regeln drei Jahre warten, bevor sie für ihre Wahlheimat Polen antreten darf. Und wenn das Belarussische Nationale Olympische Komitee diese "Bedenkzeit" nicht vorzeitig aufhebt, hat sie ebenfalls wenig Chancen im kommenden Jahr in Paris an den Start zu gehen.
"Die Athleten und Trainer, die derzeit das belarussische Team vertreten, wurden nach politischen und nicht nach sportlichen Gesichtspunkten ausgewählt", so Tsimanouskaya gegenüber DW. "Im Moment sind nur regimetreue Menschen in der Mannschaft, die vom KGB genehmigt wurden. Das verstößt gegen die Grundsätze des Olympischen Sports und die Rechte von Sportlerinnen wie mir. Es sieht so aus, als hätten wir keine Rechte."
Sportlerinnen und Sportler wollen gehört werden
Tsimanouskaya sagt, auch sie habe "null" Unterstützung vom IOC erhalten. Sie berichtet, dass kein Offizieller sie seit dem Tag, an dem sie aus Tokio in Polen gelandet ist, mehr kontaktiert habe. Und dass sie nie wieder etwas von ihnen gehört habe, nachdem sie einen finanziellen Zuschuss aus dem olympischen Solidaritätsfonds beantragt hatte.
Die DW bat das IOC um eine Stellungnahme zu Tsimanouskayas. Das IOC reagierte erst nach der Veröffentlichung des Artikels: "Während ihrer Zeit in Polen unterstützt die Olympische Bewegung sie, vertreten durch das polnische Nationale Olympische Komitee und den polnischen Leichtathletikverband."
Für den BSSF-Direktor Alexander Opeikin ist dies ein klassisches Beispiel für die Heuchelei der Organisation. "Wenn das IOC von 'Menschenrechten' in Bezug auf offizielle belarussische und russische Sportler spricht, warum kümmern sie sich dann nicht um die Rechte anderer belarussischer Sportler, die unterdrückt wurden?", kritisiert Opeikin in einem Interview mit der DW.
Sie freue sich darauf, eines Tages für Polen zu laufen, sagt Kristina Tsimanouskaya. Sie möchte das tun als Zeichen ihrer Dankbarkeit gegenüber dem Land, das sie aufgenommen hat. Aber die Sportlerin weiß auch, dass einige ihrer ehemaligen Teamkolleginnen nicht in der Lage sein werden an Wettkämpfen teilzunehmen, solange sich die Situation in Belarus nicht ändert.
"Es ist klar, dass ich Belarus nicht mehr vertreten werde", so Tsimanouskaya. "Aber ich möchte zumindest, dass mein Land frei ist und dass der Krieg aufhört." Die Sprinterin ergänzt: "Ich möchte nur, dass das IOC unsere Stimmen hört, die Stimmen derer, die unterdrückt werden. Dass sie unsere Stimmen hören und unsere Rechte in irgendeiner Weise wahrnehmen."
Aus dem Englischen adaptiert von Thomas Klein. Der Artikel wurde nach der Stellungnahme des IOC aktualisiert.