Katerstimmung nach WM-Euphorie?
9. Juli 2006Besorgte Stimmen fragen, wie es denn nun wohl weitergeht. Folgt auf die Euphorie die Depression? Nein, glauben Experten. Aber ganz ohne Katerstimmung wird es wohl nicht abgehen. "Natürlich gibt es jetzt eine gewisse Ernüchterung", stellt der Bremer Sportsoziologe Hans-Jürgen Schulke klipp und klar fest.
Das sei eine ganz normale Entwicklung, denn ein emotionales Hochgefühl lasse sich nun mal nicht lange aufrechterhalten: "Nach dem großen Kick einer Hochzeitsnacht kommt ja auch irgendwann die Routine des Ehealltags." Ein Lied von solcher Ernüchterung können seiner Schilderung nach etwa die Australier singen, die die Olympischen Spiele 2000 in Sydney ebenso begeistert begleiteten wie nun die Deutschen die WM - und nachher in eine Art "kollektiven Blues" verfielen.
Primitivierte Emotionen
Auch der Psychologe Peter Walschburger prophezeit für die erste Zeit nach der WM eine "leichte kollektive Niedergeschlagenheit", ähnlich wie die Stimmung am Aschermittwoch, wenn die große Karnevalssause vorbei ist, oder gar wie nach einem Drogenrausch. Verstärkt werde dieses Gefühl bei dieser WM durch das Phänomen des Public Viewing auf großen Plätzen und Fanmeilen. "In der Masse werden Emotionen verstärkt und primitiviert. Dadurch wird der Kater nachher umso größer sein."
Bei der Mehrzahl der Deutschen werde das melancholische Gefühl aber schnell wieder verfliegen, beruhigt der an der Freien Universität Berlin lehrende Psychologe. "Und ein Teil der Hochstimmung ist sogar im Privaten für andere Ziele nutzbar." Walschburger kann sich gut vorstellen, dass viele Menschen sich von der guten Stimmung im Land einerseits und vom fröhlichen Ehrgeiz der Klinsmann-Elf andererseits anstecken lassen und ihrem eigenen Leben einen Ruck geben. Möglicherweise werde die Weltmeisterschaft sogar einen Anstoß geben können, damit die seit langem anhaltende depressive Grundstimmung im Land endlich Optimismus weicht.
Gesucht: neue Identifikationsobjekte
Sorgen macht sich Walschburger allerdings um jene Fans, die nur wenig Selbstbewusstsein und keine konkreten Ziele vor Augen haben. "Wer sonst nichts hat, woran er sein Herz hängen kann, der wird nun in ein umso tieferes Loch fallen", glaubt er. Insbesondere junge Menschen neigten dazu, sich übermäßig auf Vorbilder wie die Nationalmannschaft oder auf ein Ereignis wie die WM zu fixieren.
Der Sportsoziologe Schulke sieht nun die großen Sportorganisationen am Zug. Denn beim Sport - im Großen oder Kleinen - lasse sich das Gemeinschaftsgefühl erhalten. "Man muss jetzt das Bewusstsein wachhalten, dass Sport eine tolle Sache ist", sagt er. Es gelte, die Lust am Zuschauen in die Lust am Mitmachen umzuwandeln und Sportangebote auszubauen. Fußball, Aerobic, Jogging oder Schwimmen seien zudem tolle Mittel, um sich über das Ende der WM hinwegzutrösten und dem Leben neuen Schwung zu geben, meint er.
Walschburger rät allen Deprimierten, neue Ziele in den Blick zu nehmen und sich eine andere Gruppe zu suchen, mit der man sich identifizieren kann - sei es die Familie, der Sportverein oder das Kollegium. Ein bisschen Bedauern, meint er, gehört nach Ende eines gelungenen Fest wie der WM aber einfach dazu. "Da müssen wir jetzt durch." (wga)