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Kassel und die Kunst

Heike Mund15. Juli 2015

Alle fünf Jahre lockt sie ein internationales Publikum nach Kassel: Die Kunstausstellung documenta zeigt nicht nur aktuelle Tendenzen, sondern vermittelt auch nachhaltig Denkanstöße. Ein Blick auf ihre Geschichte.

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Deutschland Documenta Figurengruppe Fremde von Thomas Schütte
Bild: picture-alliance/dpa/R. B. Fishman

Die documenta nimmt ihren Anfang gleich nach Kriegsende, vor 60 Jahren. Der Maler und Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode hat seit Langem die Idee, in einer internationalen Ausstellung all die Kunst zu präsentieren, die unter den Nazis als "entartet" diffamiert und verboten war. Ein Neuanfang im zerbombten Nachkriegs-Deutschland: Das Publikum soll endlich auch Künstler aus Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Amerika zu sehen bekommen. Kunst, die die gleichgeschalteten Nazi-Ausstellungen den Deutschen vorenthalten hatten.

Wiederentdeckung der Moderne

Der Hunger nach unzensierter Kultur ist Anfang der 1950er-Jahre groß. Die erste documenta 1955 in Kassel lockt immerhin 130.000 Besucher an - aus dem In- und Ausland. Viele Deutsche sehen dort zum ersten Mal Plastiken des britischen Bildhauers Henry Moore (Foto unten: "König und Königin"), ausländische Besucher können die abstrakte Malerei neu entdecken - von Pablo Picasso bis zu Fritz Winter. Viele der deutschen Künstler waren jahrelang durch Berufsverbot, Flucht und Emigration völlig in der Versenkung verschwunden und werden in Kassel erstmals ausgestellt.

Paul Bode (l.) zeigt dem ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss (r.) "König und Königin" von Henry Moore (Foto: Ullstein AKG)
Paul Bode (l.) zeigt dem ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss (r.) "König und Königin" von Henry MooreBild: Ullstein AKG

Die erste documenta wird ein riesiger Erfolg. Der Eintritt war preiswert: 1,50 Deutsche Mark kostet die Eintrittskarte für jeden Besucher, ermäßigt nur 50 Pfennige. Ein Ausstellungsbesuch durch den labyrinthisch angelegten Kunst-Parcour ist damals auch für Bürger erschwinglich, die sonst kein Geld fürs Museum ausgeben. Das trägt zur Popularität der international ausgerichteten documenta bei. Das erst halb wieder aufgebaute Museum Fridericianum ist 1955 Ausstellungsort für 148 Künstler, vieles musste notdürftig improvisiert werden.

Museum Friedericianum mit Schriftzug der ersten Documenta am Friedericianum in Kassel (Foto: G.Becker/documenta Archiv Stadt Kassel)
Das Fridericianum in KasselBild: G.Becker/documenta Archiv Stadt Kassel

Schlüsselwerke der Pop Art

Dass die erste documenta auch international gut ankommt, ermuntert Arnold Bode zu seinem Ausstellungskonzept für das Jahr 1959. Chefideologe an seiner Seite und starker Vertreter der Malerei wird der Kunsthistoriker Werner Haftmann. Er holt großformatige Malerei amerikanischer Künstler nach Kassel, was zu größeren Spannungen führt. Es gibt nicht genug Platz, die europäischen Künstler fühlen sich nicht angemessen präsentiert. Auf der zweiten documenta wird deshalb auch ein neuer Ausstellungsort in Kassel, die Ruinen der Orangerie, mit einbezogen.

Andy Warhol 1969 (Foto: AP Photo)
Andy Warhol mischt mit seiner Pop Art die vierte documenta aufBild: picture alliance/AP Images

Die amerikanische Pop Art drängt auf den Kunstmarkt. Das beeinflusst auch das Konzept der dritten documenta 1964. Bode lädt verstärkt Künstler aus den USA und Übersee ein. Für die zweite documenta ist der Maler Robert Rauschenberg noch an der Auswahlkommission gescheitert, 1964 zeigt er dann allerdings zusammen mit den Amerikanern Jasper Johns und Allen Jones erstmals Schlüsselwerke der Pop Art in Kassel. Aber sie bleiben Außenseiter. Erst die vierte documenta wird zum Triumphzug der amerikanischen Pop Art-Künstler - allen voran Andy Warhol mit seiner zehnteiligen "Marilyn".

Kunst als Happening

Das Umbruchjahr 1968 ist eine Zäsur: Arnold Bode tritt als Chef der documenta ab. Erstmals entscheidet ein "documenta-Rat" über die Auswahl der Künstler. Spektakuläre Happenings und provokante Aktionskunst dominieren die Kunstschau in Kassel. Zur Eröffnung gibt es massive öffentliche Proteste, weil bestimmte Kunstrichtungen gar nicht vertreten sind. 1972, bei der vierten documenta unter dem Kurator Harald Szeemann, sind Fluxus- und Konzeptkunst stark vertreten. Joseph Beuys eröffnet sein "Büro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung".

Joseph Beuys vor den Basaltsteinen für seine Aktion "7000 Eichen" (Foto: picture-alliance/akg-images/N. Strauss)
Joseph Beuys vor den Basaltsteinen für seine Aktion "7000 Eichen"Bild: picture-alliance/akg-images/N. Stauss

Ab 1977 findet die documenta alle fünf Jahre statt. Inzwischen ist sie zum weltweit wichtigsten Kunstereignis aufgestiegen. Der künstlerische Leiter der sechsten documenta, Manfred Schneckenburger, wagt viel: Er präsentiert politische Kunst und soziale Plastiken von Beuys: 343.000 Menschen schauen sich an, wie 150 Kilogramm Honig als "Herzensnahrung" in einem Schlauchsystem durch mehrere Räume gepumpt werden und in einem Behälter 100 Kilogramm Margarine rotieren. Die "Honigpumpe am Arbeitsplatz" löst gemischte Reaktionen aus. Laserskulpturen mischen die klassische Bildhauerei auf, erstmals sind DDR-Maler in Kassel mit dabei. Richard Serras rostige Riesen-Stahlplastik "Terminal" sorgt für Diskussionen. Die Fotografie wird zum ersten Mal mit in den Kanon der documentareifen Kunst aufgenommen.

Spektakuläre Außenskulpturen

Die beiden documenta-Schauen der 1980er-Jahre schaffen verstärkt Platz für Kunst im Außenraum. 1982 bekommt Kassel mit der siebten documenta gleich zwei Wahrzeichen: die Skulptur "Große Spitzhacke" des Amerikaners Claes Oldenburg am Ufer der Fulda und die Basaltstelen von Joseph Beuys' Kunstprojekt "7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung": Jede Stele steht für einen Baum, der in der Zukunft gepflanzt werden soll. Heute säumen Eichenalleen die Zugänge zum documenta-Gelände.

Eichenalleen an den Zugängen zum Documenta-Gelände in Kassel (Foto: Foto: Uwe Zucchi dpa/lhe)
Beuys sei Dank: Heute säumen Eichenalleen die Zugänge zum documenta-GeländeBild: picture-alliance/dpa/U. Zucchi

Für die achte documenta muss Manfred Schneckenburger ein zweites Mal als künstlerischer Leiter einspringen: Das Leitungsteam hat sich heillos zerstritten. Performance, Videokunst von Nam June Paik, Marie-Jo Lafontaine und Fabrizio Plessi und spannende Außenskulpturen in der Auenlandschaft sind seine künstlerischen Akzente. In den Karlsauen in Kassel sorgen die Guillotinen des schottischen Künstlers Ian Hamilton Finlay für Aufregung: Kinder sollten von der Kunst fern gehalten werden. Der Belgier Jan Hoet setzt 1992 mit seiner neunten documenta andere Akzente: Seine Schau wird als "Kunstzirkus" stark kritisiert. Mit mehr als 1000 Exponaten schießen die Kosten in Millionenhöhe.

Aufbruch in die Globalisierung

Die erste Frau auf dem Chefsessel der documenta sorgt schon bei ihrer Ernennung für Schlagzeilen und Kritik. Die Französin Catherine David kündigt für die zehnte documenta eine Abkehr vom Kunstrummel an. Sie will 1997 vor allem politisch-kritischen Künstlern eine Plattform geben. Mit der Diskussionsreihe "100 Tage – 100 Gäste" ruft sie in Kassel ein kulturpolitisches Forum ins Leben, das weltweit Aufmerksamkeit bekommt. Okwui Enwezor, der Leiter der elften documenta, tritt dort als Referent auf. David zeigt neben aktueller Kunst auch ein künstlerisch hochkarätiges Filmprogramm und kann die Besucherzahlen auf 630.000 steigern.

Documenta 12 - Serie documenta ABC (Foto: Uwe Zucchi dpa/lhe)
Der Nigerianer J. D. 'Okhai Ojeikere zeigt auf der documenta zwölf Forografien von Frisuren aus seiner HeimatBild: picture-alliance / dpa

Und der Erfolg geht weiter: Der Nigerianer Okwui Enzewor lädt gezielt 118 Künstler ein und formt die documenta endgültig zur Weltausstellung der zeitgenössischen Kunst. Westliche Kunst tritt 2002 bei ihm in Dialog mit Kunst aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Der Wiener Roger Martin holt 2007 zum Teil Jahrhunderte alte Kunst dazu. Populärster Künstler der zwölften documenta ist der Chinese Ai Weiwei: Er holt 1001 Chinesen als lebende Installation nach Kassel und lässt sie durch die Stadt laufen. Damit erreicht er neue Besucherrekorde.

Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev expandiert 2012 mit der dreizehnten documenta und zeigt ihre ausgewählten 300 Künstler auch an Standorten außerhalb von Deutschland: in Kabul, Kairo und Banff, in Kanada. Viele Kunstwerke entstehen dort vor Ort und nicht vorab in Künstlerateliers.

Die documenta soll weiter wissenschaflich erforscht werden

Damit die 60-jährige Geschichte der weltweit wichtigsten Schau zeitgenössischer Kunst besser wissenschaftlich erforscht werden kann, wird das documenta-Archiv ab 2016 von der Stadt Kassel an die documenta GmbH übergehen: Es beinhaltet eine der bedeutendsten Spezialbibliotheken zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.

2017 findet die nächste documenta unter dem Leiter Adam Szymczyk statt. Ganz neu: Athen wird als gleichberechtigte Spielstätte für die zeitgenössische Kunst dazukommen.