Kanzler der Aussöhnung
10. Juni 2009Das ist ein großer Moment in seinem Leben, den er mit versteinerter Miene erlebt. Er, der im Untergrund gegen den NS-Staat gekämpft hat, er, der deswegen von seinen politischen Gegnern denunziert worden ist, steht hier auf der Bühne des Nobel-Instituts in Oslo. Er fühlt sich als Repräsentant des "anderen Deutschland", das sich während der NS-Diktatur nichts hat zu Schulden kommen lassen. Er ist deswegen von den einen geliebt und verehrt und von den anderen gehasst worden. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt ist einerseits Ausdruck der Hochachtung des Nobel-Komitees vor der Ostpolitik Brandts. Andererseits aber steckt auch eine Anerkennung des antifaschistischen Widerstands in dieser Auszeichnung.
Am 18. Dezember 1913 wird Willy Brandt als Herbert Frahm in Lübeck geboren. Seine Kindheit steht unter keinem guten Stern. Seinen Vater lernt er nie kennen, seine Mutter arbeitet als Verkäuferin. Er wächst bei seinem Großvater auf, der ihn schon früh mit den Organisationen der Arbeiterbewegung zusammen bringt. Ab Ende der 1920-er Jahre tritt er mal dieser, mal jener sozialistischen Organisation bei. Die Machtübertragung an die NSDAP und Adolf Hitler am 30. Januar 1933 erlebt er noch in Deutschland. Aber schon kurz danach emigriert Herbert Frahm im Auftrag der "Sozialistischen Arbeiterpartei" und geht nach Norwegen. Seine Entscheidung, sich dort dem antifaschistischen Widerstand anzuschließen, wird ihm immer wieder Anerkennung, aber auch Verachtung einbringen.
Aus Herbert Frahm wird Willy Brandt
Zur Tarnung nimmt er den Decknamen "Willy Brandt" an. Auf Seiten der Republikaner reist er als Journalist 1937 während des Bürgerkriegs nach Spanien. Sowohl die Eindrücke dieses Bürgerkriegs, als auch die Gräuelnachrichten aus Deutschland, wo er 1938 ausgebürgert wird, prägen ihn für den Rest seines Lebens.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kommt er 1946 als Berichterstatter für skandinavische Zeitungen zum Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess nach Deutschland zurück. Erschüttert hört er die Details des Holocaust und die Versuche der Angeklagten, sich aus der Verantwortung dafür zu stehlen. Als er zwei Jahre später die deutsche Staatsbürgerschaft zurück bekommt, beschließt er, fortan sein Pseudonym "Willy Brandt" als offiziellen Namen anzunehmen.
Er siedelt mit seiner Familie nach Berlin und wird während der Berlin-Blockade (24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949) enger Mitarbeiter des Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter. Das ist der Startschuss einer Politikerkarriere in Berlin, die ihn erst Präsident des Abgeordnetenhauses und anschließend Regierender Bürgermeister (1957-1966) werden lässt.
Eintritt in die Regierung
1961 wird Willy Brandt zum ersten Mal über die Berliner Stadtgrenzen hinaus bekannt, als er zum SPD-Kanzlerkandidaten gegen den Amtsinhaber Konrad Adenauer nominiert wird. Im gleichen Jahr entwickelt er gemeinsam mit dem damaligen Leiter des Berliner Presse- und Informationsamtes, Egon Bahr, die neue Ostpolitik. Unter dem Motto "Wandel durch Annäherung" soll trotz Berliner Mauer und Stacheldraht, die Deutschland und damit auch Europa seit dem 13. August 1961 in zwei Teile spalten, eine Aussöhnung mit dem Osten Europas bewerkstelligt werden.
1966 bilden SPD, CDU und CSU die erste große Koalition. Willy Brandt wird Außenminister und Vizekanzler. Drei Jahre später gewinnt die SPD mit ihm als Kanzlerkandidaten die Bundestagswahl und verabredet mit der FDP die erste sozial-liberale Koalition.
Schon in seiner Regierungserklärung legt Brandt klar, in welche Richtung die neue Ostpolitik gehen soll: Aussöhnung mit den Staaten des Osteuropas, die unter dem Zweiten Weltkrieg mehr als andere Länder gelitten hatten und deutsch-deutsche Verhandlungen über den Abbau der innerdeutschen Spannungen. Zwar existieren für Willy Brandt faktisch zwei deutsche Staaten, aber eine "völkerrechtliche Anerkennung" der DDR komme nicht in Betracht. Vielmehr seien die beiden Staaten "füreinander nicht Ausland" und ihre Beziehungen könnten nur von "besonderer Art" sein.
Streit um die Ostpolitik
Die Ostpolitik spaltet das Volk. Die einen warnen vor einem Ausverkauf deutscher Interessen und einer verheerenden Niederlage im Kalten Krieg. Die anderen begrüßen die Ostpolitik als Komplettierung der deutschen Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Adenauers Westintegration und Brandts Ostpolitik ergänzten einander. Die Ostpolitik würde der geostrategischen Lage Deutschlands gerecht werden. Zudem sei sie Ausdruck der deutschen Verantwortung für die Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft. Nach heftigen innenpolitischen Debatten werden 1970 in Moskau und Warschau die ersten Verträge "zur Normalisierung der wechselseitigen Beziehungen" unterzeichnet. Stumme Abbitte leistet Willy Brandt mit seinem Kniefall vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos in Warschau.
Trotz Friedensnobelpreis und internationaler Anerkennung für die Ostpolitik werden die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition immer härter. Ende April 1972 scheitert die Union nur knapp mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Willy Brandt.
Ein Spion im Kanzleramt
Bei der anschließenden Neuwahl erreicht die SPD erstmals die Mehrheit der Sitze im Deutschen Bundestag. Die Regierung unterzeichnet – gestärkt mit diesem eindeutigen Wählervotum – am 21. Dezember 1972 den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag, der eine Entspannung im Verhältnis zur DDR bringt.
Willy Brandt stolpert über eine Spionage-Affäre. Jahrelang ist der DDR-Spion Günter Guillaume nicht nur im Kanzleramt, sondern auch im privaten Umfeld in allernächster Nähe des Kanzlers gewesen. Obwohl die Ursachen dieser Affäre eigentlich bei den Geheimdiensten oder im Innenministerium liegen, tritt Brandt am 6. Mai 1974 zurück. Ein Kanzler dürfe nicht "erpressbar" sein, legt er in seinem Rücktrittsschreiben dar und offenbart damit, dass Guillaume auch Kenntnis von Vorgängen hat, die in die Privatsphäre des Kanzlers gehören.
In den folgenden Jahren beschäftigt Willy Brandt sich mit dem Nord-Süd-Dialog, wird Vorsitzender der "Sozialistischen Internationale", bemüht sich um eine Lösung im Nahost-Konflikt und gilt als "Elder Statesman", dessen Wort über die Parteigrenzen hinweg Gehör findet. Während der deutschen Wiedervereinigung prägt er den Satz, dass nun "zusammenwächst, was zusammengehört." Am 8. Oktober 1992 stirbt Willy Brandt in Unkel am Rhein im Alter von 78 Jahren.