Ukraine: Kann Deutschland Deserteure ausliefern?
14. September 2023In der Ukraine lässt die Diskussion über wehrpflichtige Männer, die nach Russlands Angriffskrieg ins Ausland geflohen sind und sich so der Mobilmachung entzogen haben, nicht nach. Es geht in erster Linie um jene Kriegsdienstverweigerer, die mit Hilfe von gekauften ärztlichen Bescheinigungen als wehrunfähig eingestuft wurden und deshalb ausreisen konnten.
Können Sie nun zur Verantwortung gezogen werden? Einen neuen Anstoß für die Diskussion gab jüngst der Fraktionschef der regierenden Präsidentenpartei "Diener des Volkes" im ukrainischen Parlament, David Arachamia.
Danach sei eine Auslieferung von Personen, die sich dem Kriegsdienst illegal entzogen hätten, an die Ukraine möglich, weil "die internationale Rechtshilfe zuletzt stark zugenommen" habe. Ihm zufolge geht es um Fälle, die durch Kontrollen aufgedeckt wurden, und bei denen es um Bestechung, Urkundenfälschung und Flucht vor der Mobilmachung geht.
"Strafverfolgungsbehörden können die Auslieferung solcher Personen beantragen und sie in die Ukraine zurückholen, um sie dann zur Verantwortung zu ziehen", sagte Arachamia im ukrainischen Fernsehen.
Der ukrainische Justizminister Denys Maljuska räumte hingegen ein, dass es problematisch sei, eine Auslieferung an die Ukraine zu erreichen - auch im Zusammenhang mit viel offensichtlicheren Verbrechen, beispielsweise bei der Flucht von korrupten Spitzenbeamten ins Ausland.
184.000 Ukrainer in Deutschland
Der Minister sagte im ukrainischen Fernsehen, "die Gerichte sind, was Auslieferungen angeht, sehr vorsichtig, besonders, weil bei uns Krieg herrscht". Aber er sei sich sicher, dass sich die Situation verbessern werde, wenn die Gesetze geändert würden und die ausgelieferten Personen mehr Sicherheit erhielten.
Kiew hat die deutschen Behörden bisher noch nicht gebeten, Männer im wehrpflichtigen Alter abzuschieben, die die Ukraine illegal verlassen haben oder nach ihrer legalen Ausreise nicht in die Ukraine zurückgekehrt sind. Das teilte vor kurzem Maximilian Kall, Sprecher des Bundesinnenministeriums, mit.
Nach Angaben des Ministeriums sind nach dem 24. Februar 2022 insgesamt 214.263 männliche ukrainische Staatsangehörige nach Deutschland eingereist, die zum 31. Juli dieses Jahres zwischen 18 und 60 Jahre alt waren. Davon halten sich noch 184.272 in Deutschland auf, heißt es auf DW-Anfrage.
Es liegen jedoch keine Daten darüber vor, wie viele dieser Männer nach Deutschland eingereist und dort geblieben sind, ohne gegen ukrainische Gesetze verstoßen zu haben. Unbekannt ist auch, wie viele mutmaßliche Kriegsdienstverweigerer unter ihnen sein könnten, die der Mobilmachung mit Bestechung, Urkundenfälschung, illegalem Grenzübertritt oder anderen Verstößen entgangen sind.
Wie ist eine Auslieferung geregelt?
Der Auslieferungsverkehr mit der Ukraine findet auf der rechtlichen Grundlage des Europäischen Auslieferungsabkommens und des 2. und 3. Zusatzprotokolls zu dem Abkommen statt. Nach Artikel 2 Absatz 1 ist Voraussetzung für eine Auslieferung, dass die Handlung sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch dem des ausliefernden Staates strafbar ist.
Nach Artikel 4 ist die Auslieferung bei militärisch strafbaren Handlungen jedoch ausgeschlossen. "Damit sind in erster Linie Delikte gemeint, die ausschließlich in der Verletzung militärischer Pflichten bestehen", erklärt eine Pressesprecherin des Bundesjustizministeriums auf DW-Anfrage.
Dadurch würden Straftaten laut deutschem Wehrstrafgesetz (Paragraf 15-18), unter anderem für Fahnenflucht und Dienstentziehung durch Täuschung, als Grundlage für eine Auslieferung ausscheiden.
"Wenn eine Handlung allerdings auch nach allgemeinem Strafrecht mit einer Strafe bedroht ist, zum Beispiel eine Bestechung, um nicht eingezogen zu werden, gilt die Ausnahme nicht", so das Justizministerium.
Abschiebung wegen Urkundenfälschung?
"In Fällen von Urkundenfälschung, der Verwendung falscher Bescheinigungen und Bestechung kann ein Auslieferungsersuchen gestellt werden", erklärt Frank Peter Schuster, Professor für Internationales Strafrecht an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität in Würzburg im DW-Gespräch. Auch der Schutzstatus ukrainischer Flüchtlinge in Deutschland verhindere dies nicht.
Bei Verstößen gegen die Pflicht zur militärischen Dienstleistung, die auch in Deutschland Strafen nach sich ziehen, sollte Kiew hingegen nicht auf die Auslieferung von Ukrainern setzen, die sich der Mobilmachung entziehen, so der Experte.
Allerdings müsste die Ukraine zunächst Beweise sammeln, Strafverfahren einleiten, Tatverdacht erheben oder ein Urteil in Abwesenheit fällen und schließlich ein Auslieferungsersuchen stellen. Erst danach können die deutschen Gerichte mit einer Prüfung der Gründe beginnen.
Rudi Friedrich von der Organisation Connection e. V., die sich für die Rechte von Kriegsdienstverweigerern einsetzt, bestätigt dies. Bisher sei die Frage einer möglichen Auslieferung ukrainischer Kriegsdienstverweigerer "sehr hypothetisch". Es gebe bislang keinen einzigen Fall.
Theoretisch möglich, aber...
Doch selbst wenn theoretisch ein Verfahren zur Prüfung eines Auslieferungsersuchens begönne, wäre es nicht einfach, die Auslieferung einer Person zu erreichen. Ein Hindernis wäre laut Frank Peter Schuster die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, die in Deutschland zulässig und im Grundgesetz verankert ist.
Experte Rudi Friedrich betont in diesem Zusammenhang, dass auch in einem Auslieferungsverfahren die Möglichkeit besteht, einen Asylantrag zu stellen. "Asylantrag heißt, dass jemand unter den Schutz des Asylverfahrens gestellt ist. Und für Verweigerer ist die Situation so: Wenn sie befürchten, in der Ukraine wegen ihrer Kriegsdienstverweigerung verfolgt zu werden, dann können sie letztendlich Asyl beantragen", so Friedrich.
Wie viele der ukrainischen Männer im wehrfähigen Alter in Deutschland den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigern und wie viele von ihnen aus anderen Gründen die Ukraine verlassen haben, ist unbekannt. Denn bisher müssen ukrainische Flüchtlinge keinen individuellen Asylantrag stellen, sondern erhalten vorübergehenden Schutz in der Europäischen Union ohne Angabe solcher Gründe.
Derzeit berechtigt dieser Status zum Aufenthalt bis März 2024 und kann um ein weiteres Jahr verlängert werden. In Zukunft, wenn dieser Status ausläuft, könnten Kriegsdienstverweigerer aber vor die Wahl gestellt werden, in die Ukraine zurückzukehren oder einen Asylantrag zu stellen.
Dieser könnte allerdings abgelehnt werden, warnt Rudi Friedrich. Ihm zufolge zeigen die Erfahrungen der Jahre 2015 und 2016, dass es sehr schwierig ist, einen positiven Bescheid über den Asylantrag ukrainischer Kriegsdienstverweigerer in Deutschland zu erhalten.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk