Kampf den Mythen - der israelische Autor Uri Avnery und der Nahost-Konflikt
3. Dezember 2006Ein Leben im Frieden, sagt Uri Avnery, das hat er noch nicht kennen gelernt. Denn zu seinem Leben habe immer der Unfriede gehört: Damals, als er noch ein Kind war, im Deutschland der erstarkenden Nazi-Bewegung; dann während der ersten Monate des Dritten Reichs; und schließlich, seit der Emigration seiner Familie, in Israel beziehungsweise Palästina. "In den 72 Jahren, die ich in Palästina lebe, habe ich und kein anderer Israeli oder Palästinenser jemals einen Tag Frieden erlebt", sagt er. "Jeden Tag werden unsere täglichen Nachrichten vom Kriegsgeschehen beherrscht. 72 Jahre lang. Darum ist Frieden für uns, in unserem Land, beinahe so etwas wie Science Fiction."
Ungenutzte Gelegenheiten
Zehn Jahre war Avnery alt, als seine Familie 1933 aus Deutschland fliehen musste. Seit Jahrzehnten setzt sich Avnery inzwischen für einen israelisch-palästinensischen Frieden und die Koexistenz zweier Staaten ein. Damit meint er Israel - und einen noch zu gründenden Staat Palästina mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Der 1923 geborenen Schriftsteller und Friedensaktivist überraschte die Welt, als er mitten im Libanonkrieg 1982 die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Yasser Arafat traf. Und er stellte schon 1974 geheime Kontakte mit der PLO-Führung her.
Gelegenheiten, Frieden zu schaffen - die habe es in der Vergangenheit immer wieder gegeben, sagt Avnery. Aber weder Palästinenser noch Israelis hätten sie ergriffen. "Und die Frage ist: was hat der Schriftsteller zu tun, um das zu überwinden? Kann er überhaupt etwas tun?", fragt Avnery. "Meine Antwort ist ein unbedingtes Ja! Der Schriftsteller kann, der Schriftsteller muss, ja, der Schriftsteller hat die Pflicht, die Situation zu verändern."
Zwei Planeten
In jedem Krieg, sagt Avnery, entstehen Mythen. Mythen, die begründen, warum das Opfer ein Opfer und der Feind ein Feind ist. Eben deshalb behinderten sie jede Form von Veränderung und Verständigung. Aufgabe des Schriftstellers sei es deshalb, die Mythen des eigenen Volkes zu überwinden und die der anderen Seite, des so genannten Feindes, zu verstehen und zu erklären: "Der wirkliche Krieg, die wirkliche Friedlosigkeit ist der Kampf zwischen den Mythen. Wissen Sie, wenn ich von meinen palästinensischen Freunden spreche, dann muss ich immer feststellen, dass jedes einzelne Erlebnis in meinem Leben vollkommen anders aussieht als tausende Erlebnisse auf der anderen Seite. Dieselben Geschehnisse, von denen jeder Israeli überzeugt ist, dass sie so waren, wie erinnert - auf der anderen Seite sehen sie vollkommen anders aus!" Es sei, als spräche man nicht über zwei Völker, die im selben kleinen Land zusammenleben, sondern von zwei Völkern, die in zwei verschiedenen Erdteilen leben - oder auf zwei verschiedenen Planeten."
Vom eigenen Recht überzeugt
So betrachteten die Israelis den Krieg von 1948 als Kampf um die eigene Selbständigkeit und Unabhängigkeit - für die Palästinenser hingegen sei dieser Krieg ein nationales Unglück, eine nationale Katastrophe gewesen, bei dem die Israelis die Hälfte des palästinensischen Volkes aus seinem Land vertrieben haben: "99,9 Prozent glauben an diese Mythen - auf beiden Seiten. Sie sind bereit, ihr Leben zu opfern für diese Mythen, sind total von dem eigenen Recht überzeugt", sagt Avnery. "Und erst wenn man erkennt, dass wir hundertprozentig recht haben, die andere Seite aber auch hundertprozentig recht hat - erst dann kann man sich überhaupt dem Frieden nähern."
Dazu brauche es Ausdauer und Zeit - viel Zeit, räumt Avnery ein. Aber er, als ein skeptischer Optimist, ist davon überzeugt, dass sich mit Hilfe der Schriftsteller und Intellektuellen tradierte Sichtweisen tatsächlich aufbrechen lassen. Trotz aller wiederkehrenden Gewaltausbrüche heute und in den vergangenen Jahren.