Kampagne gegen Kindesmissbrauch gestartet
21. September 2010"Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter", so heißt der Leitgedanke der am Dienstag (21.09.2010) in Berlin vorgestellten Aufklärungskampagne der Bundesregierung gegen sexuellen Kindesmissbrauch. Die Kampagne soll in den kommenden Wochen über Plakate, Postkarten und durch Fernsehspots das Land aufrütteln, um vor allem eines in den Köpfen zu verankern: "Sprechen hilft".
Oft beginnt das Reden erst nach 40 Jahren
Im Mai 2010 wurde in Deutschland eine telefonische Anlaufstelle für Missbrauchte wie Täter eingerichtet. 65 ausgebildete Fachkräfte stehen dort abwechselnd zum Gespräch bereit, bieten direkt - aber ohne die schützende Anonymität zu verletzten - ihre Hilfe an. Anlässlich der Vorstellung der neuen Kampagne zog die unabhängige Beauftragte zu Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Christine Bergmann, eine erste Bilanz.
2500 Anrufe und Briefe habe sie erhalten, erzählte die ehemalige Bundesfamilienministerin. Dabei habe sie vor allem eines erstaunt, "dass sich 60 Prozent der Betroffenen zum ersten Mal in ihrem Leben anvertrauen". Dies sei auch deshalb erstaunlich, weil zwischen der Tat und dem Sprechen bei vier von fünf der bisher bekannten Opfer mindestens 20 Jahre lägen.
Bei nicht wenigen dauere es sogar 40 bis 50 Jahre, bis sie ihr Schweigen brechen könnten, berichtet Jörg M. Fegert, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Ulm. Er begleitet die Aufklärungskampagne wissenschaftlich und glaubt bereits jetzt - auch ohne repräsentatives Statistikmaterial an der Hand - einige Schlussfolgerungen ziehen zu können. So habe sich gezeigt, dass die meisten Opfer wiederholt und über lange Jahre hinweg missbraucht wurden. Frauen seien vermehrt im familiären Umfeld zu Opfern geworden, Männer in Institutionen wie Internaten oder Kirchen, sagt der Wissenschaftler. "Es sind vor allem Gewalttaten im Nahbereich, also im Beziehungs- und Betreuungsverhältnis - nicht diese Fremdtäter am Spielplatz."
Filmemacher Wim Wenders übernimmt künstlerische Leitung
Um die Botschaft in die Gesellschaft zu tragen, hat die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung prominente Hilfe organisiert.
Der weltbekannte deutsche Filmemacher Wim Wenders ("Buena Vista Social Club", "Himmel über Berlin") übernahm pro bono - zusammen mit seiner Frau Donata und dem Schweizer Fotografen Alberto Venzago - die künstlerische Leitung der Kampagne. "Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie gut es ist, endlich über was zu reden, was man lange mit sich herumschleppt", sagte Wenders vor Journalisten. "Es ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die der Mensch machen kann, dass man sich mitteilt." Denn im Mitteilen selbst liege der erste Schritt zur Heilung.
"Das Verdängen zu beenden, das ist besonders in Deutschland wichtig", mahnte Wenders. "Ich will jetzt nicht sagen, die Deutschen sind die größten Verdränger der Welt. Aber wir gehören bestimmt zu den Völkern, bei denen Verdrängen wirklich Tradition hat."
Sie wolle vergangene Fälle aufarbeiten, sagte Bergmann, aber auch neues Leid verhindern: "Wenn wir Kinder in Zukunft besser schützen wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass Täter nicht geschützt sind." Dafür brauche es eine Kultur des Hinhörens und Hinsehens - und ein Ende von Vertuschung und Verschweigen.
"Entschädigung kein Schweigegeld"
Wiederholt hätten Missbrauchsopfer an ihre Adresse eine Reihe von Botschaften übermittelt, so Bergmann. Darunter die Forderung, mehr anonyme Therapie- und Anlaufstellen für Opfer einzurichten. Ferner sollten die Verjährungsfristen für Missbrauchstaten deutlich nach oben gesetzt werden.
Bergmann begrüßte den öffentlich gewordenen Vorschlag des katholischen Jesuitenordens, Opfern konkrete finanzielle Entschädigungen anzubieten. Aber die Entschädigungen müssten für alle transparent abgewickelt werden, sagte Bergmann. "Denn Entschädigung sei kein Schweigegeld", betonte sie. Die Opfer würden oft seit Jahrzehnten nach Anerkennung des ihnen zugefügten Leides suchen, viele auch in materieller Form. Weil die seelischen Schäden sexuellen Kindesmissbrauchs aber durch Geld nicht wieder gut zu machen seien, müsse die Prävention viel stärker in den Fokus rücken. Damit es in Zukunft jahrzehntelanges Schweigen nicht mehr gebe.
Autor: Richard A. Fuchs
Redaktion: Kay-Alexander Scholz