Filmpreis als politisches Ausrufezeichen
28. Mai 2013Seit einer Woche dürfen in Frankreich homosexuelle Paare heiraten. Bereits im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung hatte es große Demonstrationen im ganzen Land gegeben. Aber der Aufmarsch in Paris am Sonntag (26.05.2013) war wohl der größte und gewalttätigste. Dass fast zur gleichen Zeit Jury-Präsident Steven Spielberg in Cannes die Goldene Palme an "La vie d´Adèle" verlieh, kann rein künstlerische Gründe haben. Aber die Auszeichnung kann ebenso (oder zusätzlich) als politisches Statement verstanden werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass Jury-Entscheidungen politische Entwicklungen flankieren.
Antwort auf Straßenschlachten
An gleicher Stelle wurde zum Beispiel 2008 "Die Klasse" von Laurent Cantent mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Der Film handelt von einem Lehrer, der in einer Pariser Schule mit hohem Migrantenanteil unterrichtet. Im Gegensatz zu seinen Kollegen versucht er, Unruhestifter nicht aus der Klasse zu werfen, sondern Konflikte intern zu lösen. Zu seinen Schülern gehören 14- bis 15-Jährige aus China, Algerien, Mali oder von den Antillen, die die französische Sprache nur wenig beherrschen und deren Chance auf eine Ausbildung gering ist. "Die Klasse" ist eine Sozialstudie, eine direkte Antwort auf die Straßenschlachten in den Pariser Vororten, die dort besonders 2005 und 2007 tobten.
Moralisch verkommen
Ähnliches gilt für "Das Kind" der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Der Film, der 2005 in Cannes gewann, handelt von dem 20-jährigen Bruno und seiner Freundin Sonia, die in einer heruntergekommenen belgischen Industriestadt leben. Bruno ist Chef einer Kinderbande. Als Sonia ein Kind bekommt, ist Bruno nicht in der Lage, eine emotionale Beziehung zu dem Baby aufzubauen und verkauft seinen Sohn für 5.000 Euro an eine Kinderhändlerin. Kritiker betonten die Verantwortung für eine Jugend, die in ghettoähnlichen Vorstädten Frankreichs und Belgiens moralisch verkommt.
Ein Wink mit dem politischen Zaunpfahl
Die Goldene Palme für Michael Moores "Fahrenheit 9/11" war dagegen 2004 nicht nur ein politisches Statement, sondern fast schon aktive Wahlkampfhilfe. Moore selbst hatte erklärt, mit dem Film seinen Beitrag für die Niederlage von George W. Bush zu leisten. Die US-Präsidentschaftswahl fand ein halbes Jahr später statt. In dem Film untersucht Moore die Verbindungen der Bush-Familie zu arabischen Unternehmen, unter anderem zu jenen, die der Bin-Laden-Familie angehören. Und er schildert die US-Politik nach den Anschlägen des 11. September 2001. Dass der Dokumentarfilm eigentlich gar nicht im Wettbewerb hätte laufen dürfen, weil dort nur Spielfilme gezeigt werden, war schon ein Wink mit dem politischen Zaunpfahl. Und dass mit Quentin Tarantino ein Amerikaner als Jury-Präsident agierte, passte ins Gesamtbild.
"Zufälle" auch in Berlin
Auch auf der Berlinale erlebt man solche "Zufälle". Als vor zwei Jahren der iranische Film "Nadar und Simin" von Asghar Farhadi den Goldenen Bären gewann, war das auch eine Antwort auf die Unterdrückungsorgien der iranischen Regierung. Das Werk handelt von einem Paar, das seit vierzehn Jahren verheiratet ist, in Teheran lebt, sich eigentlich gut versteht, aber kurz vor der Scheidung steht. Denn Simin will nicht, dass ihre gemeinsame Tochter "unter diesen Bedingungen" aufwachsen soll. Sie will mit ihrer Familie das Land verlassen. Aber Nader möchte seinen kranken Vater nicht verlassen.
Nur zwölf Kriegsverbrecher
Als eine Anklage gegen die fehlende juristische Aufarbeitung des Bosnienkriehes kann der 2006 ausgezeichnete Film "Grbavica" von Jasmila Zbanic gesehen werden. Das Werk erzählt von Esma, die mit ihrer 12-jährigen Tochter Sara im Stadtteil Grbavica in Sarajevo wohnt. Esma verheimlicht Sara, dass sie eines der zahllosen Opfer der systematischen Kriegsvergewaltigungen ist und Sara das Kind eines solchen Gewaltaktes. Der Bosnienkrieg endete zwar 1995, aber Amnesty International beklagte 2009, dass nur zwölf Kriegsverbrecher wegen Vergewaltigungsdelikten verurteilt wurden.
Anklage gegen Abschottungspolitik
Und Michael Winterbottom gewann 2003 die Berlinale mit "In this world", die Geschichte einer afghanischen Flüchtlingsfamilie, die im pakistanischen Peschawar lebt. Die Eltern wollen ihrem Sohn Enayat ein besseres Leben ermöglichen, kaufen bei Menschenschmugglern ein Ticket nach London, und eine lebensgefährliche Odyssee beginnt. Der Preis war zugleich ein Zeichen gegen Europas Abschottungspolitik. Jedes Jahr begeben sich zwei Millionen Menschen in die Hand von Menschenschmugglern.
Obwohl sich ähnliche Tendenzen bei vielen Festivals erkennen lassen, muss man festhalten, dass nur die gesellschaftspolitische Aussage eines Films in der Regel nicht ausreicht, damit er prämiert wird. Die Werke müssen zugleich formal-ästhetischen Mindestanforderungen genügen, um dann letztlich wegen ihres Inhaltes von den Jurys ins Rampenlicht gestellt zu werden. Eben genau wie der diesjährige Kritiker-Liebling "La vie d'Adéle".