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Blind, aber "brandgefährlich"

24. Dezember 2021

Ein Sportler aus dem Jemen erfüllt sich einen Lebenstraum und kämpft in der Judo-Bundesliga. Das Besondere? Shugaa Nashwan ist blind und sorgt auf der Judo-Matte für Aufsehen.

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Shugaa Nashwan Judoka
Shugaa Nashwan wärmt sich aufBild: Thomas Klein/DW

Shugaa Nashwan wippt nervös von einem Bein auf das andere, seine Hände sind in den Hosentaschen seiner Jogginghose vergraben. Der 23-Jährige steht vor der Judohalle des KSV Esslingen, in der Nähe von Stuttgart. Es ist der zweite Wettkampftag in der Judo-Bundesliga, der höchsten Kampfklasse im Judo-Sport. Das Team aus Rüsselsheim, dem auch Nashwan angehört, wartet auf den Einlass. Die Kontrollen der Corona-Testergebnisse verzögern sich heute etwas. Dann geht es aber endlich weiter.

Shugaas Blindenstock weist ihm den Weg in die Halle. Ein bisschen aufgeregt sei er, sagt der Judoka, während er und seine Teamkollegen sich im Eingangsbereich anmelden. Es ist sein erster Auftritt in der Judo-Bundesliga. Nashwan ist blind und einer der wenigen Para-Judoka, der momentan in der Bundesliga kämpft. "Als der Coach von Rüsselsheim mich angerufen und gefragt hat, ob ich für die erste Bundesliga zur Verfügung stehen würde, war ich erstmal total euphorisch und dann ein bisschen panisch”, erinnert sich Shugaa. "Ich wusste nicht, ob ich das schaffe. Aber mir war klar, dass ich das tun werde."

Eigenen Kampfstil entwickelt

Es wird ernst. Die angereisten Mannschaften machen sich warm. Manche individuell, manche in der Gruppe. Nashwan steht zunächst am Mattenrand und hat die Augen geschlossen. Er saugt die Atmosphäre auf, sammelt sich, und dann geht es auch für ihn auf die Matte. "Ich habe Shugaa 2019 auf der deutschen Hochschulmeisterschaft in Hannover kämpfen sehen", erinnert sich Andreas Esper, der Trainer des JC Rüsselsheim. "Shugaa ist damals Dritter geworden. Das war schon sehr beeindruckend." Im Anschluss an das Turnier kontaktiert Esper Shugaas damaligen Jugend-Trainer Markus Zaumbrecher und bespricht das weitere Vorgehen.

Shugaa Nashwan Judoka
Nashwan (2.v.l.) mit seinen Teamkollegen vom JC RüsselsheimBild: Thomas Klein/DW

Die Tatsache, dass Shugaa blind ist, spielte für den Trainer keine Rolle. "Für einen Sehenden ist es sehr schwer nachzuvollziehen, was das für eine mentale und körperliche Leistung ist, wenn man seinen Gegner nicht sieht, sondern einfach nur spürt", sagt Esper und ergänzt: "Im Judo macht man sehr viel auf der taktilen Ebene. Wenn ein blinder Kämpfer spürt, in welche Richtung ein Gegner sich bewegt, versucht er, ihn auch in diese Richtung zu werfen." Und so habe Shugaa eine Art eigenen Kampfstil entwickelt.

"Es ist wie ein Tanz"

Es wird Zeit, auch Shugaa macht sich warm. Gemeinsam mit seinem Teamkollegen Yannick läuft Shugaa einige Runden, macht dann ein paar Dehnübungen und Würfe, um schon einmal ein Gefühl für den Kampf zu entwickeln. "Letztendlich ist es für mich nur ein Tanz, wo jeder einmal die Führung übernehmen möchte und jeder seinen eigenen Tanzstil hat", erklärt der blinde Judoka. "Ich habe dann keine Einschränkung mehr. Wir greifen uns und kämpfen. Ich habe ein gutes Körpergespür, und alles, was dann passiert, wird durch viele Sinne ausgeglichen. Dafür muss man nicht sehen können. Profis können auch die Augen schließen."

Die ersten Kämpfe beginnen. Shugaa muss allerdings noch auf seinen Einsatz warten. Er steht gemeinsam mit seinem Team am Rand und feuert seinen Mannschaftskollegen Ian Störmer an, der gerade einige Probleme mit seinem Gegner vom KSV Esslingen hat. Yannick steht neben Shugaa und kommentiert das Wettkampfgeschehen auf der Judo-Matte.

Shugaa Nashwan Judoka
Vereinskollege Yannick (r.) schildert Shugaa (2.v.r.) das Geschehen auf der Judo-MatteBild: Thomas Klein/DW

So bekommt der blinde Judoka eine genaue Vorstellung von dem Kampf, der gerade stattfindet. "Ich kenne ihn noch aus Wiesbaden, da waren wir schon in einer Mannschaft", sagt Yannick. "Ich habe Shugaa damals schon unterstützt. Aber nicht nur ich helfe ihm, das ganze Team ist für ihn da." Nashwan ist voll integriert, das freut besonders den Trainer der Rüsselsheimer. "Das ist geil. Alle unterstützen und helfen Shugaa, wenn es nötig ist", sagt Esper. "Das ist richtig cool."

Einsatz für seine "Judo-Familie"

Shugaa Nashwan wird 1997 im Jemen geboren. Eine fortschreitende Augenerkrankung lässt das Augenlicht des heute 23-Jährigen mit zunehmendem Alter immer schwächer werden. Für die medizinische Versorgung kommt er mit fünf Jahren nach Deutschland. Gemeinsam mit vier Geschwistern, seinem Vater und seiner Stiefmutter. Ein Großteil seiner Familie kehrt nach einiger Zeit wieder zurück in den Jemen, doch Shugaa bleibt bei seiner Stiefmutter in Deutschland, geht hier zur Schule und startet seine Judo-Karriere in Marburg.

Shugaa Nashwan Judoka
Shugaa (l.) und sein jüngerer Bruder MoBild: Privat

Dort besucht Shugaa ein Internat für blinde und sehbehinderte Menschen und macht sein Abitur. Nashwans damaliger Lehrer und Judo-Trainer Markus Zaumbrecher erinnert sich: "Shugaa war ein kleiner Macho. Doch durch Judo hat er sich sehr positiv entwickelt, sich sozial engagiert und vor allem für sein Team eingesetzt, seine Judo-Familie."

Großes Potential

Besonders habe Shugaa aber seine Motivation ausgezeichnet, so der Judo-Pädagoge, der für Shugaa bis heute eine wichtige Bezugsperson ist. "Es macht mich stolz und zwar nicht nur weil Shugaa sportlich erfolgreich ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass viele meiner Athleten, die ich betreut habe, immer noch Kontakt zu mir suchen, obwohl sie gar nicht mehr bei uns in Marburg kämpfen", so Zaumbrecher und ergänzt: "Ohne diese Beziehungsebene, die wir im Verein hatten, wären sie da nicht hingekommen, wo sie heute sind." 

Die sportliche und mentale Ausbildung zahlt sich bei Shugaa schon früh aus. Er war schon als Jugendlicher erfolgreich, auch wenn es gegen ältere Judoka ging. "Er hat sehr unkonventionelles Judo gemacht. Shugaa hat einfach das Gefühl für diesen Sport gehabt", sagt Zaumbrecher. "Er hat auf einer deutschen Meisterschaft mal einen Konter gemacht, den er nie gelernt hat. Deswegen glaube ich, dass Shugaa ein unheimliches Potential hat. Er kann immer überraschen." Fast zehn Jahre später hat Nashwan den Sprung in die höchste deutsche Kampfklasse geschafft. 

Schafft Nashwan den ersten Bundesliga-Sieg?

Mit Schulterklopfen und Anfeuerungsrufen wird Shugaa in Esslingen auf die Judo-Matte geschickt. Sein Gegner ist Martin Schumacher, ein etablierter Bundesliga-Judoka. In der Anfangsphase des Kampfes macht Nashwan eine richtig gute Figur. Immer wieder schafft er es, die Angriffe seines Gegners abzuwehren. Seine Mannschaftskollegen spüren, dass mehr drin ist, die Anfeuerungsrufe werden lauter. Und tatsächlich bringt Shugaa seinen Gegner mit einer Waza-ari-Wertung an den Rand einer Niederlage. Doch Schumacher befreit sich, kontert wenig später und gewinnt schließlich durch Ippon vorzeitig. "Hier kämpft eine internationale Elite im sehenden Bereich, und wenn ich da verliere, ist das keine Schande", sagt Shugaa nach seinem Kampf.

Shugaa Nashwan Judoka
Shugaa Nashwan kämpft gegen Martin Schumacher Bild: Thomas Klein/DW

"Dennoch ist es dann so, dass ich total niedergeschlagen bin. Wenn mir das aber so an die Substanz geht, dann ist Judo wohl ein elementarer Teil von mir. Ich nehme diese Niederlagen ernst und sage mir: 'Hey, ich habe jetzt einen Kampf verloren, aber ich bin immer noch eine starke Persönlichkeit und immer noch ein Kämpfer.' Und wenn man so gestärkt daraus hervorgeht, dann gewinnt man auch fürs Leben."

Inklusion macht es möglich

Nicht nur seine Mannschaft zollt Nashwan nach dem Kampf Respekt, auch die Gegner und Zuschauer sind begeistert von seiner Leistung. "Ohne Inklusion wäre das nicht gelungen", sagt Zaumbrecher und erklärt: "Es gibt in Deutschland gerade einmal zwei Veranstaltungen für blinde Judoka." Vor allem für Kinder sei es schwierig, in dem Sport voranzukommen, weil die Möglichkeiten fehlten. Zudem habe es zu Beginn kritische Stimmen gegeben, weil sich viele eine Teilnahme eines blinden Judoka an Wettbewerben von Sehenden nicht hätten vorstellen können, so Zaumbrecher: "Lasst es uns versuchen, habe ich damals gesagt. Heute sind die Kampfrichter, die Trainer und die Vereine darauf eingestellt. Die sagen dann: 'Hey, pass auf! Dein Gegner sieht zwar nichts, aber der ist brandgefährlich.'" 

Ein Ende von Shugaa Nashwans Karriere ist noch nicht in Sicht. "Viel bessere Judoka in seiner Klasse gibt es nicht", sagt Trainer Andreas Esper und wagt einen Blick in die Zukunft: "Für mich ist er ein klarer Kandidat für die Paralympics." Für Nashwan zählen an diesem Tag jedoch erstmal andere Dinge. "Ich bin einfach stolz, Teil dieser Mannschaft zu sein", sagt Shugaa und lacht.